: Ein deutscher Oktoberputsch
Vor 75 Jahren probte die Hamburger KPD den Aufstand. Am 23. Oktober 1923 ließ sie siebzehn Polizeiwachen stürmen und entwaffnen. Den anschließenden Rückzugsgefechten fielen 101 Menschen zum Opfer ■ Von Horst Meier
In den frühen Morgenstunden des 23. Oktober 1923 überfielen kommunistische Stoßtrupps Polizeiwachen in einigen Randbezirken Hamburgs. An siebzehn Stellen gelang der Überraschungsangriff, der darauf abzielte, die Beamten zu überrumpeln und zu entwaffnen. Waffen hatten die dreihundert Aufständischen bitter nötig. Denn die militärische Geheimorganisation der KPD, der sogenannte „Ordnerdienst“, brachte es in Hamburg nur auf einige Dutzend halbwegs brauchbarer Pistolen und Gewehre.
Der militärische Plan der KPD ging zunächst besser auf als ihr politischer, denn dem Sturm auf die Wachen folgte nichts, was den Handstreich der Wenigen in den Aufstand der so inständig beschworenen „Massen“ hätte verwandeln können: kein Generalstreik, keine großen Demonstrationen, keine Eroberung des Rathauses. So weit reichte der Einfluß von immerhin 18.000 eingeschriebenen Parteimitgliedern nicht. Mit den erbeuteten Waffen zogen sich die Kämpfer der KPD meist auf die Dächer der umliegenden Häuser zurück. Von dort aus empfingen sie die anrückende Polizei, in deren Hand die Mehrzahl der Wachen und vor allem die Kasernen der „Ordnungspolizei“ geblieben waren. Schon in den Mittagsstunden hatte die Staatsmacht, die im Laufe des Tages fünftausend Mann aufbot, die Lage wieder unter Kontrolle – außer in Barmbek und Schiffbek, zwei Arbeitervierteln. Dort gelang es den Aufständischen mit spontaner Hilfe von Anwohnern, Barrikaden zu errichten, an denen kleinere Polizeitrupps zurückgeschlagen wurden. Doch im Laufe des folgenden Tages konnte die Polizei auch in Barmbek, dem Aufruhrzentrum, den Widerstand brechen.
Angesichts dieser Fakten, die von keiner Seite bestritten, nur eben verschieden gedeutet werden, stellt sich die Frage: Warum kam es zu diesem Aufstand, dessen absehbares und glanzloses Scheitern nicht einmal den Stoff für eine revolutionäre Tragödie abgibt?
Die Antwort führt ins Zentrum der Fraktionskämpfe, von denen die junge Kommmunistische Partei geprägt war. Der Streit ging um die „Einheitsfront“ mit SPD und Gewerkschaften. Wie sollte das Bündnis mit der Sozialdemokratie aussehen, von der die Kommunisten sich erst Ende 1918 getrennt hatten? Die Berliner KP-Zentrale um Heinrich Brandler ging realistischerweise davon aus, daß die SPD nach wie vor die Mehrheit der politisch aktiven Arbeiterschaft vertrat, und hielt deshalb auch Verhandlungen mit ihrer Parteispitze für notwendig. Traditionell linke KP-Bezirke wie der in Hamburg setzten dagegen auf die Bekehrung der sozialdemokratischen Basis. Die „SPD-Bonzen und Arbeiterverräter“ aber beschimpfte man mit Phrasen, die den üblichen Ton der Zentrale übertrafen. Einheitsfront „von unten“ oder „von oben“ – dieser parteiinterne Konflikt trieb im Krisenjahr 1923 einem spektakulären Höhepunkt zu.
Im Herbst 1923 stand die Existenz der Republik auf dem Spiel: Französische und belgische Truppen hatten das Ruhrgebiet besetzt, um vom besiegten Deutschland höhere Reparationsleistungen zu erzwingen; die bayerische Regierung suchte den offenen Konflikt mit der Reichsregierung und ließ völkische Organisationen gewähren, die einen bewaffneten „Marsch auf Berlin“ planten; zudem verschärften sich die sozialen Konflikte. Die Inflation stürzte viele in Armut und Verzweiflung.
Zwar festigte sich die Lage etwas, nachdem im August ein kurzer Generalstreik die konservative Regierung unter Kanzler Wilhelm Cuno zum Rücktritt gezwungen hatte. Der Eintritt der SPD in eine Große Koalition ließ die Streiks abflauen. Die Arbeiter schöpften Hoffnung, weil die neue Reichsregierung Maßnahmen einleitete, um die rasante Geldentwertung zu bremsen. Noch aber galoppierte die Inflation. Astronomisch hohe Brotpreise ließen immer wieder Hungerunruhen aufflackern, es kam zu Plünderungen und Zusammenstößen mit der Polizei.
In dieser durchaus schwierigen Lage sahen maßgebliche russische Politiker, unter ihnen Leo Trotzki, das letzte Gefecht des deutschen Proletariats nahen. In Moskau begannen Beratungen der Kommunistischen Internationale über einen „deutschen Oktober“. Aus Deutschland reisten führende Genossen an – im Gepäck die bekannten Differenzen. Strategen wie Ernst Thälmann, Chef der Partei in Hamburg, fühlten sich in ihrem „linken“ Kurs bestätigt. Heinrich Brandler aus der Berliner Parteizentrale zögerte, stimmte aber am Ende zu – weil er der eigenen Urteilskraft weniger traute als den „revolutionären Erfahrungen der russischen Genossen“, wie er rückblickend bedauern sollte.
Wieder in Deutschland wurde Brandler Staatssekretär der am 10. Oktober gebildeten sächsischen Arbeiterregierung. Er versuchte, die Bewaffnung der von SPD und KPD aufgestellten Proletarischen Hundertschaften zu improvisieren. Allgemein wurde nun damit gerechnet, daß ein kommunistischer Aufstand von Sachsen ausgehen würde. Doch die Reichswehr reagierte unerwartet schnell: Am 13. Oktober wurden die Hundertschaften vom örtlichen Militärbefehlshaber in Sachsen verboten. General Müller stellte außerdem die sächsische Polizei unter seinen direkten Befehl. Gerüchte über Truppenbewegungen sickerten durch, der Einmarsch größerer Kontingente der Reichswehr lag in der Luft.
Die Ereignisse überschlugen sich. Am 20. Oktober beschloß die KPD-Zentrale, eine für den nächsten Tag in Chemnitz einberufene Arbeiterkonferenz zu bewegen, den Generalstreik auszurufen. Der Widerstand gegen die Reichswehr sollte in den bewaffneten Aufstand übergehen. Man fieberte dem Tag der Entscheidung entgegen, wie ein ehemaliger Parteifunktionär 1929 schrieb: „Allmählich waren wir alle der Revolutionspsychose zum Opfer gefallen. Ich erinnere mich, wie wir vor der Konferenz mit einigen Genossen die ganze Nacht zusammensaßen und uns im Hinblick auf die Dinge, die da kommen sollten, berauschten.“
Doch die hochfliegenden Träume vom Sowjetdeutschland zerstoben. Die Mehrheit der Arbeiterkonferenz wollte vom Generalstreik nichts wissen: „Ich hatte mich mitten unter die Delegierten gesetzt und war Zeuge, wie Brandler der Versammlung zuredete wie einem kranken Schimmel. Er redete und redete – General Müller – Faschismus – Generalstreik – Aufstand – jetzt oder nie. Die Versammlung blieb kalt wie eine Hundeschnauze. Hat man je erlebt, daß man am Vorabend einer Revolution den Proleten stundenlang zureden muß, ihr müßt morgen die Revolution machen?“
Unter dem Eindruck der Chemnitzer Konferenz beschloß die KP-Führung am Abend des 21. Oktober einstimmig, den bewaffneten Aufstand vorerst abzusagen. Gleichzeitig fiel dagegen in Hamburg die Entscheidung zum Losschlagen. Ob dies in Unkenntnis über den Ausgang der Chemnitzer Konferenz geschah oder in bewußter Opposition gegen die später als „rechtsopportunistisch“ gegeißelte Brandler-Zentrale, ist bis heute nicht geklärt.
Viel Seemannsgarn wurde um den Aufstand von Hamburg gesponnen. Doch auch inzwischen zugängliche Briefe aus SED-Archiven konnten bislang nicht klären, welche Rolle zum Beispiel ein Kurier der Zentrale spielte, über den abenteuerliche Geschichten kursierten. Erreichte er Hamburg zu spät, um den Rückzugsbefehl zeitig genug übermitteln zu können? Wollte man in Hamburg die angelaufenen Vorbereitungen nicht abbrechen?
Unwahrscheinlich, daß in Hamburg bis zum Abend des 22. Oktober, als dort eine Mehrheit die Entscheidung für den Aufstand bekräftigte, nichts über die Chemnitzer Beschlüsse bekanntgeworden war. Deshalb spricht vieles dafür, daß der linke Hamburger Parteibezirk die schon lange der Abwiegelei verdächtigte Berliner Zentrale vor vollendete Tatsachen stellen wollte. Daß man auch in Hamburg über das Vorgehen uneinig war, belegen Klagen über führende Genossen, die in einigen Stadtteilen den Aufstand „desorganisiert“ haben sollen.
Die Bilanz des lokalen Revolutionsstücks ist blutig: 24 Kommunisten, 17 Polizisten und mehr als 60 andere Menschen fanden den Tod – Barrikadenbauer, Passanten, Schaulustige. Den Razzien und Verhaftungen folgte eine Prozeßwelle; im November wurde die KPD reichsweit für Monate verboten. Im folgenden Jahr verlor sie nahezu zwei Drittel ihrer Mitglieder. Selbst unter Kommunisten kursierte bald das böse Wort vom „Putsch“ – Anlaß für Thälmann, das Gegenteil zu beteuern. In der Roten Fahne schrieb er 1925: „Der Aufstand entsprang weder dem blinden Zufall noch dem freien Willen von ein paar Verschwörern. Er entsprang der revolutionären Situation vom Herbst 1923. Es ist nicht wahr, daß der Hamburger Aufstand ein Putsch war, sondern er wurde von der Sympathie der breitesten Massen getragen.“
Im Jahresbericht der SPD hieß es dagegen: „Am 23. Oktober wurde Hamburg von einem Putsch überrascht, der an Wahnwitzigkeit und Verantwortungslosigkeit alles bisherige übertraf.“ Das dürfte den Tatsachen ziemlich nahekommen – selbst wenn man in Betracht zieht, daß bei der Regierungspartei allzu große Ordnungsliebe mit im Spiel war. Nichts aber charakterisiert diesen Aufstand mehr als die Tatsache, daß er mit Hilfe republiktreuer Arbeiter niedergeschlagen wurde. Achthundert Freiwillige folgten einem Aufruf und wurden Hilfspolizisten, meist Sozialdemokraten aus der „Vereinigung Republik“, einem republikanischen Wehrverband. Sie rückten als Schutztruppe in den Freihafen ein, so daß die dortigen Polizeikräfte zur Unterdrückung des Aufruhrs eingesetzt werden konnten.
Um so schlimmer für die SPD, wenn sie die Hilfspolizisten stellt, mögen die Freunde des bewaffneten Kampfes einwenden. Ihnen sei gesagt, was die KP- Zentrale erklärte, während die Kämpfe in den zweiten Tag gingen: „Hamburg ist ein Beispiel, wie man es nicht machen soll.“
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