jazzkolumne: Amerika streitet sich über „Jazz“
Die Klasse von 64
Heute läuft im US-TV der zehnte und letzte Teil von Ken Burns’ neunzehnstündiger Dokumentation über die Geschichte des Jazz. Als Dokumentarfilmer zu Themen wie Baseball und Bürgerkrieg wurde Burns weltbekannt, vom Jazz versteht er nach eigenem Bekunden nichts. Dafür liest sich das Line-up seines Beraterstamms wie das „Who’s who“ der amerikanischen Jazzpublizistik. Sechs Jahre und 13 Millionen Dollar Budget hat diese Produktion verschlungen.
Als würde das unbedingt dazugehören, hagelte es Kritik an dem Projekt. Doch die entpuppte sich rasch als schnell aufgewärmte Zutaten des New Yorker Jazzkriegs, der Mitte der 90er seinen Höhepunkt erreicht hatte. Der Film sei „rassistisch infiziert“, hieß es da, weil vornehmlich schwarze Musiker abgebildet werden. Er sei fragmentarisch, da alle außeramerikanischen Jazzentwicklungen nicht berücksichtigt wurden. Und er sei rückwärts gewandt, weil der aktuelle Jazz gar nicht vorkomme. Selbst zwei der bekanntesten US-Jazzmusiker, Keith Jarrett und Pat Metheny, blieben unbeachtet. Mit anderen Worten: Auf den ersten Blick riecht alles nach der neokonservativen Jazzdefinition, wie sie von Wynton Marsalis, Stanley Crouch und Albert Murray favorisiert und seit geraumer Zeit am New Yorker Lincoln Center gepflegt wird.
Um die Definitionsmacht wurde damals Krieg geführt, und Marsalis ging isoliert, aber auch gestärkt daraus hervor. Time Magazine zählte ihn schon 1997 zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Amerikas. Und Marsalis war auch der erste Jazzmusiker, dem der Pulitzer-Preis verliehen wurde. Im New Yorker Jazz hatte man sich seitdem informell auf eine Art friedliche Koexistenz geeinigt. Und einer der größten Marsalis-Widersacher, der Kolumnist der einflussreichen New Yorker Wochenzeitung Village Voice, Gary Giddins, zeichnete auch als Berater für Ken Burns’ Jazz-Filmreihe verantwortlich.
Dass sich lediglich der letzte Teil mit dem Jazz nach 1960 beschäftigt, mag tatsächlich enttäuschen. Dass sich hiermit nun der Berater Marsalis durchgesetzt habe, wurde von Burns jedoch nachdrücklich dementiert. Burns wollte keinen Film für Jazzkritiker machen, sondern gerade für jene Leute, die nichts von dieser Musik wissen. Und er wollte nicht die Geschichte interner Zerwürfnisse und Streitereien erzählen, sondern die einer einst sehr populären Musik.
Ein letztes großes Entscheidungsjahr für den modernen Jazz war 1964. Im Februar war Thelonious Monk auf dem Titelbild von Time Magazine; der Pianist mit den ungewöhnlichen Methoden und jenen gehämmerten Melodieverfremdungen wurde ein nationaler Star. Eine seiner sechs Platten aus jenem Jahr trägt den bezeichnenden Titel „Monk’s Time“, und hierauf findet sich eine der bezauberndsten Standard-Interpretationen der Jazzgeschichte, „Lulu’s Back In Town“. Im Oktober des Jahres ging der Pianist Horace Silver ins Studio, um seine Komposition „Song For My Father“ aufzunehmen – seinen größten Hit, wie sich später zeigen sollte. Der Saxofonist war der damals noch gänzlich unbekannte Joe Henderson. Sein Solo über „Song For My Father“ gilt heute als Musterbeispiel für die hohe Kunst der Improvisation.
Nie wieder in der Geschichte des Jazz fanden sich soziale Entwicklungen, Visionen, Gegenentwürfe und Befindlichkeiten sowie ein aufgeregtes Interesse an anderen Religionen, Kulturen und Musiken so unmittelbar in den Plattentiteln gespiegelt wie in den Sechzigerjahren. Eine spirituelle Erleuchtung hätte ihn 1957 zu einem reicheren, produktiveren Leben geführt, schreibt zum Beispiel John Coltrane in den Liner Notes zu seinem einflussreichsten Werk „A Love Supreme“ vom Dezember 1964. Er formulierte hier seine Hymne, sein Glaubensbekenntnis und schließlich das einer ganzen Musikergeneration, die fasziniert die Alles-ist-eins-Religiosität des Buddhismus und Hinduismus feiert, den persönlichen Christengott jedoch als mindestens gleichberechtigte Inspirationsquelle noch respektiert.
Diese Plattenaufnahme zählt bis heute zu den ehrlichsten Statements des Jazz, kein Hype und Marketing konnte diesem Titel etwas anhaben. Von „A Love Supreme“ sind auf dem amerikanischen Markt bis heute 500.000 Stück verkauft worden, dafür gab es jetzt „Gold“.
Es wird damit gerechnet, dass sich diese Verkaufszahl durch Ken Burns’ „Jazz“ entscheidend erhöhen wird. Gerade sind allein 28 CDs als Quasi-Soundtrack veröffentlicht worden. Jazz war in Amerika lange nicht mehr so populär wie in diesen Tagen. Auch dank „Jazz“.
CHRISTIAN BROECKING
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