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Fluchtwege aus der Winterdepression
: Reisefiebern

Bisweilen stapeln sich die Geschehnisse im Kopf, und das unangenehme Gefühl stellt sich ein, das eigene Dasein habe die Kontrolle über die Tage verloren. Seine Mitmenschen meint man allenfalls schattenhaft und getrieben von den Verhältnissen in der modernen Kommunikationsgesellschaft durch die Januarwochen huschen zu sehen.

Längst nimmt sich auch das eigene Selbst nur von außen wahr. Als Comic wäre man besser, denkt man, wenn man sich von oben im Supermarkt stehen sieht. Es gehört zu den Widersprüchen unserer Zeit, dass viele, angetrieben von solchen Zuständen, depressivem Selbstmitleid und der zunehmenden Verwahrlosung der eigenen Wohnung, ihr Glück ausgerechnet in einer überteuerten Flugreise ans andere Ende der Welt suchen, also der romantischen Idee verfallen, eine Flucht ans Mekongdelta wäre möglich.

Immerhin sorgt ein solcher Plan für Ablenkung. Unbekannte Probleme sind zu bewältigen: Wie imprägniere ich ein Moskitonetz? In welchen Regionen hat sich das Denguefieber noch nicht ausgebreitet? Wo übernachtet man beim Zwischenstop in Bahrain? In der allgemein labilen Gemütsverfassung können praktische Fragen wie diese fast therapeutische Wirkung entfalten.

Dieser Effekt wird durch weitere schöne Reisevorbereitungen unterstützt: Man kann im Winterschlussverkauf gestreifte Hemden einkaufen oder in Büchern nachlesen, dass Anopheles-Mücken hauptsächlich zwischen 17 Uhr und drei Uhr nachts stechen.

Fernreisen geht des Weiteren ein Ausflug ins Westend voraus. Dort befindet sich das Institut für Tropenmedizin. In einem efeubewachsenen Gebäude bereiten hier junge Ärzte den Boden für den südlichen Massentourismus. Wie am Fließband verabreichen sie Impfungen gegen Gelbfieber, Japanische Enzephalitis und Meningokokken-Meningitis. Wer die Frage „Wollen Sie auf ihrer Reise mit Blut, Sperma oder anderen Körperflüssigkeiten in Kontakt treten?“ positiv beantwortet, erhält außerdem den Hepatitis B-Impfstoff.

Menschen, die im Ausland kein Bordell besuchen wollen, aber beabsichtigen, ein Tier zu streicheln, müssen dagegen 40 Euro investieren, die Krankenkasse übernimmt die Kosten einer Tollwutimpfung nicht. Während man also ein wenig durch die Gänge des Tropeninstituts schlendert und überlegt, welches Serum man sich noch leisten will, findet sich an einer Wand ein interessanter Aushang bezüglich des Reiseziels Estland. Er öffnet einen kurzen Moment lang die Vorstellung für die ausgelassenen Stunden im Ausland, die für gewöhnlich schrecklichen Krankheiten voranstehen: „24 Todesfälle und über 35 schwere Erkrankungen mit Erblinden sind die Bilanz einer Vergiftungswelle durch illegal hergestellten und vertriebenen ‚Wodka‘. Von dem Ausbruch betroffen waren vorwiegend gutbürgerliche Kreise in der Hafenstadt Pärnu. Vor dem Genuss von Alkohol aus unkontrollierten Quellen muss ausdrücklich gewarnt werden. Dies gilt besonders für Touristen, die gerne alles probieren, was der örtliche Markt bietet.“

Nachdem man das Tropeninstitut umfassend informiert und medizinisch versorgt verlassen hat, sieht man auf dem Heimweg im U-Bahnhof ein kleines Kind über den Bahnsteig rennen. Es hält die Arme ausgebreitet und schreit alle Passanten mit „HALLO! HALLO! HALLO!“ an. Das klingt gut, und mit einem leisen Hochgefühl geht der Tag weiter.

Abends war man ein bisschen betrunken im Dunkeln spazieren und hat sich gefragt, wie lange die alten Tannenbäume eigentlich noch auf dem Bürgersteig liegen bleiben. Sonst war wenig los. Der Arzt im Tropeninstitut hatte angekündigt, dass man nach den Impfungen für zwei Tage in tiefen Schlaf verfallen würde. Auch das ist nicht passiert. KIRSTEN KÜPPERS