: Bilanz der Halbherzigkeiten
1992 beschlossen die Staaten der Welt, die Erde auch in Zukunft bewohnbar zu halten. Beim UNO-Gipfel in Rio de Janeiro verabschiedeten verabschiedeten sie die „Agenda 21“ zur nachhaltigen Entwicklung. Wirtschaft, Umwelt und soziale Systeme sollten so ins Gleichgewicht gebracht werden, dass auch künftige Generationen nochausreichende Ressourcen und Lebenschancen vorfinden. Der Weg schien klar: Bekämpfung der Armut, Drosselung des Bevölkerungswachstums,mehr Hilfe für die Entwicklungsländer, weniger Verbrauch von Rohstoffen, Boden und Energie, mehr demokratische Rechte für die Menschen. Wieviel davon ist in zehn Jahren erreicht worden? UN-Generalsekretär Kofi Annan hat für den UNO-Gipfel in Johannesburg im August einenumfassenden Bericht vorgelegt. Ab heute debattiert die UNO in New York die Bilanz einerDekade mehr oder weniger nachhaltiger Entwicklung. von Bernhard Pötter
Bevölkerung
Das Mehr wird weniger
Das Bevölkerungswachstum wird langsamer, ist aber nicht gestoppt: Im Jahr 2000 überschritt die Bevölkerungszahl die Schallgrenze von sechs Milliarden. Bis 2050 wird sie auf 9,3 Milliarden wachsen und sich dann bei etwa 11 Milliarden stabiliseren. Momentan kommen jedes Jahr noch 77 Millionen Menschen neu dazu. In Entwicklungsländern werden statistisch pro Frau knapp drei Kinder geboren. In Japan und Europa liegt die Geburtenrate bei 1,6; die Bevölkerung nimmt ab, die Probleme für die Sozialkassen werden größer. 1994 beschlossen die UN-Staaten auf der Konferenz für Weltbevölkerung in Kairo, jährlich 17 Milliarden Dollar für Bevölkerungspolitik auszugeben. Doch die Industrieländer kommen ihren Zahlungsverpflichtungen nur zu 40 Prozent nach.
Armut
Erfolg, nur nicht in Afrika
Seit Rio hat es einen prozentualen Erfolg gegeben: Der Anteil der Menschen in Entwicklungsländern, die unter einem US-Dollar am Tag verdienen (UN-Definition von Armut), ist von 29 auf 23 Prozent oder 1,2 Milliarden Menschen zurückgegangen. Fortschritte gab es vor allem in Ostasien, Südostasien und Lateinamerika. In Afrika leben allerdings 40 Prozent der städtischen Haushalte in „absoluter Armut“, 36 Prozent der Haushalte mit einer Frau als Familienoberhaupt in Lateinamerika sind arm. Landflucht und Slumbildung in den Großstädten sind ein wachsendes Problem.
Hunger und Ernährung
Soviele Über- wie Unterernährte
Das Ziel der UNO, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren, rückt in weite Ferne. Etwa 815 Millionen Menschen weltweit sind unterernährt, davon 777 Millionen in den Entwicklungsländern. Global gab es 2000 zum ersten Mal genauso viele Menschen, die an Über- wie an Unterernährung litten: 1,1 Milliarden. Dabei ist die Produktion von Lebensmitteln seit Rio wegen besserer Bewässerung und Anbaumethoden schneller gestiegen als die Weltbevölkerung, die Preise sind gefallen und die Ernährungslage hat sich grundsätzlich verbessert. In Afrika allerdings ist die Produktivität in der Landwirtschaft extrem gering. Weil die landwirtschaftliche Fläche ausgedehnt wurde, gingen ökologisch wertvolle Wälder, Grasflächen und Feuchtgebiete verloren. Die daraus folgende Verschlechterung der Böden bedroht mindestens 2 Milliarden Hektar, zwei Drittel der globalen Anbauflächen.
Politik
NGOs mischen stärker mit
Inzwischen gibt es über 500 Veträge zum Schutz der Umwelt, doch oft sind sie unverbindlich und nicht mir Sanktionen bewehrt. Im letzten Jahrzehnt wurden internationale Verträge wie das Kioto-Protokoll, die Biodiversitäts-Konvention oder das Verbot von 12 organischen Giften (POPs) beschlossen und die UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung eingerichtet. In die große Politik mischen sich immer öfter die BürgerInnen ein: Inzwischen arbeiten 24.000 Regierungsunabhängige Gruppen (NGOs) auf internationaler Ebene. Dennoch kritisiert die UNO, dass den BürgerInnen oftmals die nötigen Entscheidungensbefugnisse verweigert werden. NGOs haben in den neunziger Jahren Millionen von Menschen etwa für den Klimaschutz, das Verbot der Landminen oder gegen die Globalisierung aktiviert.
Trinkwasser
Knappheit und Verschwendung
Der wachsende Bedarf der Landwirtschaft, der Industrie und der Megastädte verschärft die Knappheit von Trinkwasser. 1,1 Milliarden Menschen haben heutekeinen Zugang zu sauberem Wasser, 2,4 Milliarden keine Möglichkeit, ihre Abwässer klären zu lassen. Dennoch hat es seit Rio Fortschritte gegeben: Der Anteil der Weltbevölkerung, die mit Trink- und Abwasser versorgt ist, stieg von 55 (1990) auf 60 Prozent (2000). Das Wachstum der Megastädte führte dazu, dass in den Städten inzwischen nur 94 Prozent (1990: 95 Prozent) der Menschen mit Trinkwasser versorgt werden. Mehr als die Hälfte der großen Flüsse weltweit sind schwerwiegend verschmutzt. In den nächsten 20 Jahren droht der Wasserverbrauch um 40 Prozent zu steigern und 2025 könnten zwei Drittel aller Menschen in Ländern mit mittleren oder schweren Wasserknappheit leben. Trotz steigendem Bewusstsein über die begrenzten Ressourcen werde Wasser immer noch als „unbegrenztes freies Gut“ betrachtet, klagen Experten.
Klima
Mehr CO2 trotz Verträgen
Obwohl in Rio die Klimaerwärmung als eines der wichtigsten Themen benannt wurde, hat im letzten Jahrzehnt der weltweite Ausstoß des Treibhausgases CO2 um neun Prozent zugenommen. Auf dem Papier kam der Schutz der Atmosphäre besser voran: Nach den Abkommen von Wien und Montreal wurden die chlorierten Fluorkohlenwasserstoffe FCKW, die die Ozonschicht schädigen, vom Markt genommen (allerdings steigt die Konzentration von Bromiden an, die die Ozonschicht noch stärker angreifen). Das Kioto-Protokoll von 1997 wurde 2001 stark verwässert, aber trotz Verweigerung der USA abschließend verhandelt. Damit haben sich die Industriestaaten zum erstenmal völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, ihren Ausstoß an Kohlenioxid zu senken. Doch diese Minderung wird möglicherweise nur 1,8 Prozent betragen, der Vertrag ist voller Schlupflöcher etwa für Russland und der größte Verschmutzer, die USA, sind nicht Teil des Abkommens.
Gesundheit
AIDS gefährdet Erfolge
Verseuchtes Wasser, fehlende Abwassersysteme und schlechte hygienische Umstände sind Hauptfaktoren bei der Ausbreitung von Krankheiten. Jährlich erkranken 300 Millionen Menschen an Malaria, eine Million stirbt daran. Cholera, Thyphus, Tuberkulose, Hepatitis B und Wurmkrankheiten töten Millionen Menschen, vor allem Kinder. Bemerkenswerten Fortschritt seit dem Rio-Gipfel gibt es bei der Bekämpfung der Polio, allgemein sank in den neunziger Jahren die Kindersterblichkeit und die Lebenserwartung verlängerte sich. Zu einem massiven Problem hat sich die Aids-Epidemie in Afrika entwickelt: Inzwischen sterben sechsmal soviel Menschen an AIDS wie vor zehn Jahren. Die Seuche habe die „junge Erwachsenengeneration in Afrika zerstört“, schreibt die UNO und sei die „am schnellsten wachsende Gesundheitsgefahr für die Entwicklung“. In den neunziger Jahren reduzierte sich die Lebenserwartung in den betroffenen Ländern um 6,3 Jahre.
Produktion und Konsum
Umsatz frisst Effizienz
Am Rohstoffhunger des Nordens hat sich seit Rio kaum etwas geändert: 15 Prozent der Weltbevölkerung sorgen dort für 56 Prozent des weltweiten Konsums. Dabei sind die Industrieländer auf dem Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft grundsätzlich auf dem richtigen Weg, aber sie machen ihre Erfolge selber wieder zunichte: In den letzten 20 Jahren hat sich die Ausbeute beim Energieverbrauch um über 25 Prozent verbessert, die Industrie bewegt sich von material- und energieintensiver Wirtschaftsweise zu Dienstleistungen. Allerdings werden durch die Globalisierung dreckige Industrien verlagert und alle Ansätze einer ökoeffizienten Wirtschaftsweise durch das Wachstum der Wirtschaft aufgefressen: „Gewinne werden von der Zunahme des Verbrauchs zunichte gemacht“, heisst es. „Es werden mehr Ressourcen verbraucht und mehr Schadstoffe produziert“. Öffentliche Subventionen zwischen 650 Milliarden Dollar und 1,5 Billionen Dollar weltweit reizen zum “ineffizienten und nicht nachhaltigen Verbrauch von Energie und Rohstoffen“, kritisieren die Experten.
Finanzen und Schulden
Weniger Geld für die Armen
Finanzhilfen für die Entwicklungsländer sind seit der Rio-Konferenz stark zurückgegangen: Flossen 1992 noch 58,3 Milliarden Dollar, waren es 2000 nur noch 53,1 Milliarden. Der Anteil von Entwicklungsgeldern am Bruttoinlandsprodukt der Industrieländer fiel im gleichen Zeitraum von 0,35 Prozent auf 0,22 Prozent. Nur Dänemark, Luxemburg, Niederlande, Schweden und Norwegen erreichen das allgemein angestrebte Ziel von 0,7 Prozent. Die meisten der ärmsten Länder mussten mit einem Rückgang von 25 Prozent bei den Finanzhilfen zurechtkommen, sieben afrikanische Länder sogar mit 50 Prozent Reduktion. Private Diektinvestitionen in Entwicklungsländer nahmen von 30 Milliarden (1992) auf 120 Milliarden in 2000 zu, aber 80 Prozent dieses Kapitals floß in nur 10 Ländern. Trotz der Absichtserklärungen von Rio, die Schulden der Entwicklungsländer zu erleichtern, hat das Gegenteil stattgefunden: Die Schuldenlast von Entwicklungs- und Schwellenländer stieg seit Rio um 34 Prozent auf 2,5 Billionen Dollar imJahr 2000.
Frauen
Chancen kaum verbessert
Die Lücke zwischen Jungen und Mädchen bei den Bildungschancen hat sich seit der Konferenz von Rio teilweise noch vergrößert. Dabei zahlen sich laut UNO Investitionen in die Ausbildung von Frauen “direkt durch bessere Ernährung für die Familie, bessere Gesundheitsvorsorge, geringere Geburtenrate, weniger Armut und bessere wirtschaftliche Bedingungen“ aus. Trotzdem sind Mädchen beim Schulbesuch benachteiligt, zwei Drittel der weltweiten Analphabeten sind Frauen. Experten schätzen, dass insgesamt 60 Millionen Mädchen weltweit wegen ihres Geschlechts abgetrieben wurden. In Schwarzafrika und Südostasien besuchen nur 2 bis 7 Mädchen höhere Schulen. In den USA stellen Frauen fünf Prozent des höheren Managements der 500 größten Konzerne, und auch in der UNO sind es nur 21 Prozent. Jährlich sterben in Entwicklungsländern 1,6 Millionen Frauen und Mädchen an Erkrankungen, die durch das Kochen mit Holz und Kohle in geschlossenen Räumen entstehen.
Energie
Verbrauch steigt und steigt
Auch ein Jahrzehnt nach der Konferenz von Rio wächst der Energiehunger der Weltbevölkerung immer weiter. Von 1992 bis 1999 stieg der Weltverbrauch von Energie um zehn Prozent. Bis 2020 wird der Verbrauch jedes Jahr um weitere 2 Prozent zunehmen. Die UNO erwartet „einige Verbesserungen beim Energiemix“, weil weniger Kohle und mehr Gas verbrannt wird. Erneuerbare Energien machen aber auch bis 2020 nur drei Prozent des Verbrauchs aus. Das heißt: verstärkter Ausstoß von Kohlendioxid und mehr Luftverschmutzung. Über zwei Milliarden Menschen haben in den Entwicklungsländern keinen Zugang zu moderner Energie wie etwa Strom.
Bildung
Erfolge, aber wenig Geld
In den fünf Jahren nach Rio stieg die Zahl der Grundschüler weltweit von 615 auf 668 Millionen. Inzwischen gehen in den Entwicklungsländern über 80 Prozent der Kinder zur Schule. 113 Millionen Kinder aber bekommen keine Schulausbildung. Die Alphabetisierungskampagnen haben erreicht, dass inzwischen 85 Prozent der Männer und 74 Prozent der Frauen lesen und schreiben können. Dennoch ist Bildung nach Ansicht der UNO “chronisch unterfinanziert“ ohne viel Aussicht auf Verbesserung der Lage
Ozeane
Das Meer wird leer
Die Überfischung der Meere hat sich seit Rio nicht gebessert: 75 Prozent der globalen Fischbestände werden entweder voll ausgebeutet oder bereits überfischt und gefährden dadurch nicht nur den Erhalt der Arten, sondern auch die Ernährung der davon abhängigen Menschen. Illegale und unregulierte Fischzüge „bleiben eines der kritischsten Probleme der Fischerei“, schreibt die UNO. Schutzzonen für die Regeneration von Fischbeständen machen weniger als 1 Prozent der Ozeane aus. Waren in Rio noch 11 Prozent der Korallenriffe wegen der Klimarerwärmung und durch menschliche Eingriffe abgestorben, sind es zehn Jahre später 27 Prozent. Setzt der Trend sich fort, werden weitere 32 Prozent in den nächsten 30 Jahren absterben.
Wälder
Kahlschlag in Tropen, Zuwachs im Norden
Insgesamt gibt es knapp vier Milliarden Hektar Wald auf der Erde, ein Drittel der Landfläche ist davon bedeckt. Knapp 15 Millionen Hektar Wald, eine Fläche knapp halb so groß wie Deutschland, wurden jährlich in den neunziger Jahren vernichtet, vor allem in den Tropen. In den Industrieländern dagegen wuchsen jedes Jahr 5 Millionen Hektar zusätzlicher Wald nach. 10 Prozent aller Wälder stehen inzwischen unter Schutz, aber dennoch gebe es „sehr wenig Fortschritt, die Entwaldung in den Entwicklungsländern zu stoppen“, heisst es von der UNO. Zwischen 1990 und 2000 verschwanden vier Prozent der weltweiten Wälder. Und mit ihnen die Artenvielfalt: Bisher sind 800 bekannte Arten von Tiere und Pflanzen ausgestorben, 11.000 bekannte Arten sind bedroht. Seit Rio hat sich das Artensterben noch beschleunigt: Jedes Jahr verschwinden nach Schätzungen von Experten 10.000 bis 30.000 Arten, von denen die meisten nicht einmal bekannt oder registriert sind. Die Zahlen sind deshalb sehr unsicher. Die Schätzungen über die Gesamtzahl derArten schwanken zwischen 30 und 100 Millionen.
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