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Sandoz verheimlichte wochenlang Dioxin–Gefahr

■ Genaue Liste der verbrannten Chemikalien unterschlagen / Hochtoxisches Insektizid „nachgereicht“ / Am Brandplatz Dioxine gemessen / Sondersitzung des Basler Parlaments / Proteste reißen nicht ab

Aus Basel Thomas Scheuer

Der Verdacht, daß der Basler Chemie–Konzern Sandoz nach der Brandkatastrophe in seinem Chemikalien–Lager Öffentlichkeit und Behörden nach Strich und Faden verarscht und wichtige Informationen über das Gefahrenpotential der gelagerten Stoffe bewußt unterschlagen hat, wurde jetzt erneut belegt: Erst drei Wochen nach der Katastrophe, so teilte die Kantonsregierung Basel– Land am Mittwoch auf einer Pressekonferenz mit, habe der Konzern eine Lagerliste nachgereicht, auf welcher plötzlich auch - bisher verschwiegene - dioxin– und furanträchtige Giftstoffe auftauchten. Bei daraufhin sofort veranlaßten Analysen wurde in einer Rußprobe vom Brandplatz das dem Seveso–Dioxin TCDD verwandte Furan TCDF (Tetrachlordibenzofuran) nachgewiesen. Gemessen wurden 50 Milliardstel Gramm pro Quadratmeter. Der Kantonschemiker von Basel– Land, Dr. Hansruedi Strauss, hatte die Untersuchung angeordnet, nachdem er am 17. November von der Sandoz–Leitung eine er gänzte Liste der in Halle 956 gelagerten Stoffe erhalten hatte. Sie enthielt Stoffe, die auf den bisherigen Lagerlisten fehlten. Aufgrund der chemischen Strukturformeln erkannte der Experte sofort, daß einige der neu aufgeführten Verbindungen hoch chloriert waren, insbesondere die Verbindung Tetradifon (Handelsname „Tedion V 18“), die bei Temperaturen zwischen 400 und 700 Grad als mögliche Ausgangssubstanz für eine Dioxinbildung gilt. In der Brand–Halle waren 2,3 Tonnen „Tedion“ gelagert, das zur Bekämpfung von Spinnmilben eingesetzt wird. Die Chloratome sind bei diesem Gift derart angeordnet, daß bei einer Verbrennung auch die Entstehung des aus Seveso bekannten TCDD (Tetrachlordibenzdioxin) zu befürchten ist. Bei sofort veranlaßten Wärmeversuchen mit dem enthaltenen Wirkstoff Tetradifon war deutlich die Bildung von TCDD sowie verwandter Stoffe zu beobachten. Fortsetzung auf Seite 6 „Ich war erschrocken, als ich die neue Lagerliste der Sandoz sah“, schimpfte Dr. Strauss am Mittwoch vor der Presse. Auch die Regierung zeigte sich äußerst verärgert darüber, daß die Sandoz–Manager erst 17 Tage nach dem Brand die neue Liste nachschoben, und dies, ohne ausdrücklich auf die Gefährlichkeit der Stoffe hinzuweisen. Ein Sandoz–Sprecher versuchte dies damit abzutun, daß die Lagerbuchhaltung „nicht auf dem neusten Stand“ gewesen sei. Konzern–Chef Marc Moret hatte noch kürzlich anhand eines auf Großleinwand projizierten Schemas eben diese Lagerbuchhaltung als vorbildlich dargestellt. Scharfe Kritik an der Chemie–Industrie und besonders an deren Informationspolitik, durch welche sie das Vertrauen der Bevölkerung und des Parlamentes verwirkt habe, kennzeichnete die Sondersitzung des kantonalen Parlamentes der Stadt Basel, des Großen Rates, am gestrigen Donnerstag über die Sandoz–Katastrophe. „Wir selbst und unsere Reaktionen“, meinte eine sozialdemokratische Abgeordnete selbstkritisch, „sind das von der Chemie–Industrie bewußt einkalkulierte Rest–Risiko.“ Mehrfach wurde die Schaffung eines sogenannten „Chemie–Inspektorates“, d.h. einer unabhängigen Institution zur Überwachung der Chemie–Konzerne gefordert. Einem Redner fehlten die Worte: Er verzichtete auf seine Redezeit zugunsten einer „Schweigeminute für die toten Fische.“ Derweil ebbt die Welle des Protests nicht ab: Eine studentische Uni–Vollversammlung forderte gestern die Integration ökologischer Fragen in die Lehrpläne aller Fakultäten sowie die Einrichtung eines unabhängigen Forschungsinstitutes. Für den morgigen Samstag ruft die „Aktion Selbstschutz“ zu einem Trauerumzug mit Kerzen und Fackeln durch Basel auf. In der Basler Stadtgärtnerei steigt am Samstag und Sonntag ein zweitägiges Künstler–Spektakel „Kultur am toten Fluß.“ In der Nacht von Sonntag auf Montag sind die Basler aufgerufen, unter dem Motto „ein Monat danach - eine Stadt erinnert sich“ schwarze Tücher aus den Fenstern zu hängen. Seit Montag patroullieren jeden Abend im Rahmen der Aktion „chemische Straßenreinigung“ Anwohner mit Sandwichs und Lampen durch ihre jeweilige Straße. Für insgesamt 150 Straßen seien Patenschaften übernommen worden, teilt der Koordinator der Aktion mit, die am Wochenende mit einem Sternmarsch enden soll. Das Schweizer Fernsehen brachte allein am Donnerstag abend vier aktuelle Sondersendungen über die Chemie–Problematik am Rhein.

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