: Standesfürsten mit linkem Präsidenten
■ Erstmals in der Geschichte der deutschen Ärzteschaft stellt in Berlin eine links–alternative Liste den Ärztekammerpräsidenten / Gewählt wurde der ehemalige AL–Gesundheitsstadtrat Ellis Huber / Weitere sechs Mitglieder der fortschrittlichen Ärzteliste im Vorstand
Aus Berlin Vera Gaserow
Mit völlig unstandesgemäßen Hochrufen und Rock–Konzert–bewährten Wunderkerzen hat am Donnerstag abend die Mehrheit der Berliner Ärztekammer ein historisches Ereignis gefeiert: Zum ersten Mal nämlich in der Geschichte der traditionell sehr konservativen deutschen Ärzteschaft hat die Standesvertretung der rund 11.000 Berliner Ärzte sich mit Ellis Huber einen links– alternativen Kammerpräsidenten gewählt. Mit dem ehemaligen AL–Gesundheitsstadtrat Huber als Präsidenten ziehen weitere sechs Mitglieder der fortschrittlichen Ärzteliste „Fraktion Gesundheit“ in den neunköpfigen Berliner Ärztekammervorstand ein. Was in Berlin am Donnerstag abend kurz vor Mitternacht besiegelt wurde, ist zwar ein historisches, aber in Berlin auch längst überfälliges Ereignis. Seit 1978 ist hier eine gemeinsame Liste von meist jüngeren, poli tisch eher links orientierten Ärztinnen und Ärzten im Vormarsch gegen die alteingesessene Chefarztriege. 1982 wurde sie mit fast vierzig Prozent der Stimmen stärkste Ärztekammerfraktion. Den endgültigen Durchbruch im Ärztekammervorsitz und -vorstand brachte jedoch erst die Kammerwahl im Dezember 1986, aus der die Liste „Fraktion Gesundheit“ mit 48 Prozent als eindeutige Siegerin hervorging. Der nun am Donnerstag abend besiegelte Macht– und Generationswechsel in der Berliner Ärztekammer könnte sich in der nächsten Zeit in verschiedenen Bereichen praktisch auswirken. Vorgenommen haben sich die „Fraktion Gesundheit“ und Präsident Huber u.a. ein stärkeres öffentliches Einwirken der Ärztekammer auf aktuelle gesundheitspolitische Probleme, so z.B. auf die Berliner Smogverordnung oder die Krankenhausplanung. Geplant sind auch eine Kampagne gegen die „Pillen–Politik“ vieler Ärzte und ein Patienten–“Mekker“–Telefon bei der Ärztekammer. Einfluß wird das Ärztekammerpräsidium auch auf die Facharztbildung haben. Die Entwicklung in der Berliner Standesorganisation ist bisher einmalig. Fortsetzung auf Seite 2 Bericht und Portrait Seite 5 Aber auch in anderen Bundesländern wird der „Aufstand gegen die Standesfürsten“ geprobt. Fast überall haben sich oppositionelle Ärztelisten gegründet, die in dem im November 86 gegründeten „Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte“ einen lockeren Zusammenschluß haben. Allerdings haben es die Listen im Bundesgebiet schwerer, denn anders als in Berlin, wo der Marburger Bund in der „Fraktion Gesundheit“ mitarbeitet, tritt hier der Marburger Bund als Gegner dieser oppositionellen Listen auf. Dennoch erreichten im letzten Jahr die fortschrittlichen Ärzte bei den Kammerwahlen in Hamburg, Bayern und Baden–Württemberg auf Anhieb jeweils über 20 Prozent der Stimmen. Und allein das reichte schon aus, die älteren „Halbgötter in Weiß“ aus der standesgemäßen Rolle fallen zu lassen. Auf der letzten Sitzung der bayerischen Ärztekammer warf ein langjähriges Präsidumsmitglied seinen Kollegen von der oppositionellen Liste „RAF–Nähe“ vor und drohte deren Spitzenkandidaten sogar öffentlich Prügel an.
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