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Aus den Geheimakten der Humangenetiker

■ Interne Unterlagen aus dem humangenetischen Institut Münster aufgetaucht / „Interessante Fälle“ von Behinderungen und Erbschädigungen werden gesammelt „Prävention“ von Behinderungen durch erzwungene Schwangerschaftsverhütung / Sterilisation von behinderten Jugendlichen wird befürwortet

Aus Hamburg Udo Sierck

Als im August letzten Jahres auf das humangenetische Institut der Universität Münster ein Anschlag verübt wurde, bedauerte die Institutsleitung weniger den entstandenen Sachschaden als den Verlust von einmaligem wissenschaftlichen Forschungsmaterial. Die sich zu dem Anschlag bekennende Gruppe „Rote Zora“ hatte seinerzeit umfangreiche Aktenbestände mitgehen lassen. Auszüge aus den jetzt bekannt gewordenen Unterlagen dokumentieren eindrucksvoll den Alltag und die Perspektiven humangenetischer Tätigkeit. Sanfter Druck Prof. Widukind Lenz, bis vor kurzem Leiter des Instituts in Münster, widmete einen Großteil seines Wirkens der humangenetischen Beratung. Entgegen seiner sonstigen Ausfälle - so forderte er ganz in der Tradition seines Vaters, dem Rassehygieniker Fritz Lenz, Ende der sechziger Jahre den Ausschluß der „Asozialen“ von der Fortpflanzung - schlug er in der Beratung zunächst zurückhaltende Töne an. Das „Unglück“ eines behinderten Kindes suchte er nicht mit Gewalt zu verhindern, sondern begegnete Ratsuchenden mit Risikowerten: „Bei einer spinalen Muskelatrophie... besteht für weitere Kinder ein Risiko von 25 Prozent... Man kann natürlich auch sagen, daß für jedes weitere Kind eine 75prozentige Chance besteht, daß es gesund ist.“ Solche Aussagen stärken allerdings die Verunsicherung der schwangeren Frauen, aus deren Recht zur Selbstbestimmung unmerklich die Bürde geworden ist, zwischen „wertem“ und „unwertem“ Leben entscheiden zu müssen. Die Beratungsunterlagen von Lenz aus den vergangenen 20 Jahren legen dabei den Schluß nahe, daß die allgemeine Akzeptanz von Behinderungen weiter zurückgegangen ist und daß das Versprechen der Humangenetiker, Leid abwenden zu können, sich als Hoffnung bei den Ratsuchenden festgesetzt hat. Auch das Institut in Münster übt sich darin, von aufschreckenden Umweltkatastrophen abzulenken und stattdessen das Dilemma zu individualisieren. „Die Hauptursache vorgeburtlicher äußerer Schäden ist momentan Alkoholismus der Mutter“ - mit diesen Worten bügelte Lenz 1984 eine besorgte Frau ab. Er sieht ähnlich wie bei manchen Medikamentenskandalen den „einzigen Schaden“ etwa bei der Seveso–Katastrophe dort, wo „sensationelle Presseberichte dazu geführt“ haben, „daß viele Frauen gesunde Kinder abgetrieben haben“. Die zunehmende Furcht vor Schädigungen durch die Einnahme von Arzneimitteln während der Schwangerschaft ist aus den Anfragen an das genetische Institut ersichtlich. Die Pharmaindustrie schert das wenig: Obwohl in Tierexperimenten Mißbildungen nachgewiesen werden, bleiben entsprechende Präparate auf dem Markt und treiben Frauen in die genetische Beratung. Lenz durchschaut die Situation und spielt die Gefahr zugleich herunter, wenn er die Auskunft gibt, daß die „warnenden Hinweise des Herstellers in erster Linie dem juristischen Schutz der pharmazeutischen Firmen“ dienen. Auf den ersten Blick müssen diese Verharmlosungen verblüffen, sammelte Lenz doch Lorbeeren mit seinem Engagement im Contergan–Skandal. Zu denken gibt allerdings sein offenbar gutes Verhältnis zur Chemischen Industrie: Der Boehringer–Zentrale in Ingelheim lieferte er Ende 1984 eine Analyse, in der er die Angaben zu Fehlbildungen durch das im Vietnam–Krieg eingesetzte Dioxin–haltige Entlaubungsmittel „agent orange“ als „absolut unglaubhaft“ bezeichnet; die ungewöhnlich hohe Zahl der Totgeburten im vietnamesischen Tay Ninh führt er auf die Situation in einem unterentwickelten Land zurück. Boehringer bedankt sich, die „Ausführungen waren für uns von großem Interesse“. Vermutlich nicht nur an das Münsteraner Institut dürfte hingegen die Schering AG mit dem Begehren herangetreten sein, für die konzerneigene Auswertung mit beiliegendem Erfassungsbogen „Fälle“ von Frauen zu dokumentieren, die während der Schwangerschaft Schering–Medikamente eingenommen haben und sich daraufhin haben beraten lassen. Bei Anfragen von Ärzten aus dem gesamten Bundesgebiet, die einen „Verdacht auf Erbkrankheiten“ hegen, empfiehlt das Institut nahezu regelmäßig eine Untersuchung in einem humangenetischen Institut - insbesondere wenn „der Casus vom wissenschaftlichen Standpunkt interessant erscheint“. Das Sammeln von „interessanten Fällen“ und das Anlegen von Genetikregistern hat Methode. Ein Beispiel: Aus einem der sich am Institut befindlichen Register wurden 1.800 Personen mit einer Körperbehinderung (hier mit einer Hüftluxation) ausgewählt und einer Kontrollgruppe Nichtbehinderter gegenübergestellt, die - über die Einwohnermeldeämter herausgefunden - in den Merkmalen Alter, Geschlecht und Wohnort mit den Behinderten übereinstimmten. Die Forschungsreihe belegte die soziale Benachteiligung dieser Körperbehinderten. Die Interpretation der Erkenntnis aus humangenetischer Sicht erhellt den Sinn dieser Forschung: Es geht den Forschern nicht um das Nächstliegendste, nämlich diese soziale Benachteiligung zu beseitigen. Stattdessen müsse man die Maßnahmen zur Prävention „der jeweiligen angeborenen Fehlbildung“ forcieren. Und Prävention bedeutet hier nicht umfassende medizinische Vorsorge, sondern erzwungene Schwangerschaftsverhütung. Für Prof. Wilhelm Tünte, langjähriger Mitarbeiter und Nachfolger von Lenz, ist in die sem Zusammenhang auch wieder die Überlegung „nach der finanziellen Belastung durch Erbkrankheiten legitim“. Diese Prüfung sei schon deshalb unerläßlich, weil durch die modernen Behandlungsmethoden die „sexuelle Betätigung behinderter Menschen“ an Bedeutung gewinne. Widukind Lenz hatte noch in der jüngsten Debatte um die (Zwangs–) Sterilisation von behinderten Jugendlichen den Eingriff eindeutig bejaht und Kritikern ein „Faust“–Zitat entgegengehalten: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.“ Die für ihn einzig mögliche Alternative zur Unfruchtbarmachung, die „Verhinderung sexueller Kontakte durch Asylierung“, sieht er „an dem Reformeifer“ mancher Psychiater scheitern. Die kühl berechnende Mentalität des modernen Genetikers bringt in dieser Frage wiederum Wilhelm Tünte zum Ausdruck: Bei gesicherter Kinderlosigkeit ist es für ihn „fast unerheblich, ob die Fortpflanzungsverhinderung durch Tod im Kindesalter oder - bei unverkürzter Lebenserwartung - durch Benachteiligung im Erwachsenenalter bedingt ist“. Bevölkerungspolitik Prof. Tüntes Fachgebiet ist die Sozialgenetik, die die Beziehung zwischen genetischen Faktoren und der Intelligenz, Schichtzugehörigkeit oder Kinderzahl untersucht. In seiner Arbeit bezieht Tünte sich direkt auf den Anthropologen Hans Wilhelm Jürgens, der in den siebziger Jahren das Wiesbadener Institut für Bevölkerungsforschung leitete. Der häufig in den Medien auftretende Jürgens, in steter Sorge um den deutschen Geburtenrückgang und die Qualität des Genmaterials, hatte 1985 auf einer Tagung der Jungius–Gesellschaft in Hamburg zur Rentenfinanzierung und den Kosten im Gesundheitswesen die Sterbehilfe–Diskussion angefacht: Nach seinen Vorstellungen müsse man, um den „Altenberg“ zu beseitigen, „den Tod zur Disposition stellen“. Tünte indes setzt sich (vorerst?) vehement für gezielte „Präventivmaßnahmen“ ein, um die so eingesparten Gelder den behinderten Menschen durch ein ausgebautes Rehabilitationssystem zugute kommen zu lassen. Voraussetzung ist für Tünte die Routineanwendung der pränatalen Diagnose mit anschließendem Schwangerschaftsabbruch, wenn eine „Mißbildung“ in Aussicht steht. Dieses Ansinnen hatte Otto von Verschuer, der das humangenetische Institut in Münster 1951 gründete, vorformuliert: „Je erfolgreicher wir die Prophylaxe der Erbkrankheiten durchführen, um so mehr werden Mittel und Kräfte frei, die dann zu einer um so intensiveren Pflege und Fürsorge aller Kranken eingesetzt werden können.“ Verschuer äußerte diese Gedanken in einem Vortrag vor den Verwaltungsleitern der Heil– und Pflegeanstalten in Berlin 1939.

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