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Irlands Wähler froren bei der Stimmabgabe

■ Um Geld im finanzschwachen Irland zu sparen, waren bei der Wahl die Heizungen abgedreht / Die Iren erschienen jedoch in ungewöhnlich großer Zahl zur Stimmabgabe / Der taz–Reporter als „Wahlbeamter“ im irischen Dublin

Aus Dublin Ralf Sotscheck

Am Dienstag sind die irischen Wähler und Wählerinnen bei eisiger Kälte zu vorgezogenen Neuwahlen an die Urnen gebeten worden. So beherrschte auch weniger die bankrotte Wirtschaftslage der Nation die Diskussionen in den Wahllokalen als vielmehr das Wetter. Ich durfte an diesem Tag Wahlbeamter sein und mußte überprüfen, ob die angehenden Wähler/ innen im Wahlregister verzeichnet waren. Das Wahllokal, die kleine protestantische Grundschule „Tintenfaß“ in Dublin– Mitte, sah aus wie ein Werk von Christo: Sie war mit Wahlplakaten zugeklebt worden. Wer sich davon nicht beeindrucken ließ, sah sich auf den letzten Metern vor dem entscheidenden Kreuzchen von unzähligen Wahlhelfern belagert, die mit Hilfe von Flugblättern und Anstecknadeln versuchten, die Stimmen der Unentschlossenen zu ergattern. Von Zeit zu Zeit erschienen gar die Kandidaten persönlich, um ihre frierenden Helfer zum Ausharren zu ermuntern. Sparen, sparen ... Die ersten Sparmaßnahmen des finanzschwachen Staates wurden bereits im Wahllokal spürbar: Die Heizung war abgestellt, was mir bei Temperaturen um den Gefrierpunkt den zwölfstündigen Staatsdienst gründlich verleidete. Den noch kostete die Wahl über zehn Millionen Mark - ein demokratisches Vergnügen, das sich Irland so oft nicht leisten kann. Die Parteien sprachen einmütig von einer „Schicksalswahl“. Die Wähler/innen honorierten es mit einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung von 76 Prozent. Der Weg ins Wahllokal war für viele Menschen jedoch vergeblich. Da das Wahlregister schon ein Jahr alt ist, blieben 156.000 Wahlberechtigte ohne Stimme - vor allem junge Leute, die im Laufe des letz ten Jahres volljährig wurden, aber erst im nächsten Register verzeichnet sein werden, das im April erscheint. Etwas Schadenfreude über die schlampige Bürokratie kam am Wochenende auf, als drei Babys mit ihren Wahlkarten in der Hand von den Titelseiten der Zeitungen lachten. Daraufhin wurde den Säuglingen das Wahlrecht sofort wieder aberkannt. Obendrein sorgte ein neues Gesetz für weitere Dezimierung des Wahlvolkes. Zum ersten Mal mußten sich die Iren/innen bei einer Wahl ausweisen können. Bisher hatte es gereicht, wenn man Namen und Adresse auswendig wußte. Diesmal wurden bei fünf Prozent der Wähler/innen Stichproben vorgenommen, wobei von Sparbuch über Monatskarte bis zum nachbarschaftlichen „den kenne ich seit Jahren“ alles akzeptiert wurde. „Gerrymandering“ ... Der Wähleransturm erfolgte im Drei–Stunden–Takt. Die meisten Wähler/innen gingen nämlich vor der Wahl zur Messe in die benachbarte Kirche. Angesichts des irischen Parteienspektrums erscheint Beten für Irlands Zukunft eine durchaus erfolgversprechende Alternative zu den Wahlen. Nicht alle wählten denn auch in der Hoffnung auf Besserung der maroden irischen Wirtschaft. Ein älterer Wähler meinte: „Wenn wir eine neue Regierung bekommen, werden erstmal die Wahlkreise neu eingeteilt, um die Mehrheit bei den nächsten Wahlen zu sichern. Gerrymandering nennt man das.“ „Gerrymandering“ ist die - nicht nur in Irland beliebte - Wahlkreismanipulation, um einer Partei bei den Wahlen einen unfairen Vorteil zu verschaffen. Der Name kommt von Elbridge Gerry, Gouverneur von Massachusetts, der 1812 die Wahlkreise in einer Weise einteilte, die an Wahlbetrug grenzte. Der Wahlkreis Essex im Nordosten des amerikanischen Staates sah schließlich wie ein Salamander aus, und zunächst hieß Mr. Gerrys Gaunertrick „Salamandering“. Das geprellte Stimmvieh meinte jedoch, daß dem Gouverneur für diese Sauerei ein Denkmal gesetzt werden müsse, und fortan hieß der Begriff „Gerrymandering“. Irland wählt nach dem System der proportionalen Repräsentation. Die Wähler geben den Kandidaten Nummern in der Reihenfolge ihrer Wahl. Überschreitet der Kandidat Nummer Eins die zum Einzug ins Parlament erforderliche Quote (Zahl der abgegebenen Stimmen geteilt durch Sitzanzahl plus eins, plus eine Stimme), werden die überzähligen Stimmen auf den Kandidaten zweiter Wahl übertragen. Ebenso wird mit den Stimmen der schwächsten Kandidaten verfahren, die von der Liste eliminiert werden. So müssen die Wahlzettel in einigen Fällen zehnmal gezählt werden, bis die Parlamentarier feststehen. Die Iren hängen an ihrem Wahlsystem, das auch Parteilosen gute Chancen garantiert. In der Vergangenheit haben sie sich per Volksentscheid wiederholt den Versuchen der Parteien widersetzt, die proportionale Repräsentation abzuschaffen. Wegen der mühsamen, aber spannenden Auszählung stand das Wahlergebnis erst in der vergangenen Nacht fest. Trotz aller Wahlpropaganda erregte ein riesengroßes Plakat in dem zum Wahllokal umfunktionierten Klassenzimmer die meiste Aufmerksamkeit. Darauf war zu lesen: „Punk rules o.k.“

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