: Urteil bringt Eltern zum Rotieren
■ Italienischer Scheidungsrichter stellt erstmals Psyche von Kindern in den Mittelpunkt Wohnung bleibt im „Besitz“ der Kinder, die Eltern sollen halbjährlich wechseln
Rom (taz) - Zunächst sah der Fall „Remiddi/ Sanna“ ganz nach Routine aus: Die Ehe der beiden war unheilbar zerrüttet, eine Brücke zurück sah niemand mehr, die Verteilung der wenigen Güter schien machbar - nur über die beiden Kinder Marco, 13 und Debora, 12 gab es noch das in Italien übliche harte Gerangel: anders als in der Bundesrepublik haben auch Väter gute Chancen, die Kinder zu bekommen, die ganze Sippschaft zerrt an den Kindern mit. Auf der Strecke bleiben, natürlich, meist die Kinder. Nun aber ist einem römischen Scheidungsrichter der Kragen geplatzt. Nach dem x–ten Einigungsversuch entschied er - und seitdem ist Italien in zwei etwa gleich starke Lager geteilt, je nach Stellung zum Urteil. Zunächst wandte Richter Achille Toro eine neue Bestimmung an, nach der beide Eltern gleichberechtigt das Sorgerecht ausüben können. Diese Neuerung ist freilich eher für Paare gedacht, die sich bezüglich ihrer Kinder einig sind. Das war hier nicht der Fall, und so entschied Richter Toro weiter: Um die Streithähne auseinanderzuhalten, müssen sie einander halbjährlich abwechseln. Und dann kam die größte Überraschung: „Das Sorgerecht muß jeweils in der bisherigen Wohnung der Kinder ausgeübt werden, sodaß die Kinder beim Wechsel der Sorgeperson nicht aus der vertrauten Umgebung gerissen werden.“ Mit diesem „Rotations–Spruch“ stellte erstmals ein Gericht das Interesse der Kinder als absolutes Gut dar. „Eine epochale Leistung“, lobte Italiens bekanntester Kinderanalytiker Cesare Mussati, „zu hoffen ist nur, daß sie weltweit Schule macht“. Doch es gibt auch Widerstände - und nicht alle sind mit dem Etikett „kinderfeindlich“ abzutun: beide Eltern wissen im vorliegenden Fall zum Beispiel nicht, wo sie wohnen können, wenn sie gerade „wegrotieren“ müssen. „Das Urteil kann sich nur leisten, wer zwei oder besser drei Wohnungen zur Verfügung hat“, klagt Laura Remiddi, die ebenso wie ihr Mann in die Berufung gehen will. Wie auch immer: „Der Spruch zeigt“, sagt Analytiker Mussati, „daß die Justiz, 100 Jahre nach der Entwicklung der Psychoanalyse, endlich auch auf die Probleme kindlicher Traumata gestoßen ist.“ Werner Raith
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