: Vertrauen auf die eigene Kraft
■ Philosophen, Psychologen, Verkehrsplaner und Techniker berieten in Berlin die „Zukunft des Fahrrades“
Fahrradfahren als „Hauch von Souveränität“ im streßgetriebenen Verkehrsgewühl, als „Wiederentdeckung der Gemächlichkeit“, als „Lust an der körperlichen Anstrengung“ - das Fahrrad selbst als „ideal angepaßtes, klassenloses und frauenfreundliches Verkehrsmittel“, so schwärmten professionelle Fahrradfreunde während des Symposions, das vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad–Club am Montag und Dienstag in der Berliner Technischen Universität ausgerichtet wurde. Erörterungen zur Fahrrad–gerechten Verkehrsplnung und zukünftigen Fahrrad–Technologie folgte die praktische Anwendung. Zwölf Prototypen einer zukünftigen Fahrrad–Kultur wurden dem Publikum vorgestellt.
„Auf geringem Geldniveau kultiviert zu leben, dafür steht das Fahrrad.“ „Fahrradfahren ist die Lust an der Beweglichkeit, die Sehnsucht nach kleinen Fluchten, die Freude am gemäßigten Widerstand.“ „Das Fahrrad ist ein Mittel zur Erhaltung einer mitteleuropäischen Stadtstruktur und Landschaft.“ „Fahrradfahren ist ein Stück Nonkonformität und Souveränität.“ „Fahrradfahren ist die Entdeckung der Nähe.“ Der Versuch, den neuen erstaunlichen Trend zum Fahrrad zu erklären, provoziert viele Antworten. Die schlichten zwei Räder mit Pedalen, Kette, Leichtbaustahl und Kugellager werden neuerdings zum „Erlebnisraum“ erhoben, sind Ausdruck eines „Gegenentwurfs“ oder gar Mittelpunkt eines Gefühlsuniversums. Das Fahrrad als politisiertes Symbol der anderen, gemächlichen, menschlichen Gesellschaft? Die „Fahrrad–Zukunft“ wollte der Allgemeine Deutsche Fahrrad– Club (ADFC) untersuchen und hatte dazu Verkehrsplaner und -experten, Konstrukteure und Hersteller, Psychologen und Philosophen zu einem Berliner Symposium eingeladen. Alle Referenten waren Freunde und Besitzer von „muskelgetriebenen Zweirad–Fahrzeugen“, alle teilten die Sehnsucht nach ei ner Zukunft des Fahrrads innerhalb einer verträglichen Verkehrsstruktur. Alle wollten den herrschenden Verkehr zum dienenden machen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, wenn man der Analyse des Verkehrsphilosophen Wolfgang Sachs folgt. Für Sachs sind die Radler die eigentlichen Automobilisten. Sie sind auto– mobil. Unabhängig von Staus, Verschleiß, Werkstätten, Zeithetze, Finanzamt präsentiert sich das Fahrrad als billige und flinke Alternative. Mit dem Fahrrad sein eigener Herr sein. Wo das Auto innerhalb der Massenmotorisierung zum unvergnüglichen Teil der hektischen Transportmaschinerie verkommt, gewinnt das Fahrrad „Erlebnismotive“, die einst dem Auto im Kontrast zur Eisenbahn zugeordnet worden waren. „Für die Kinder der vollmotorisierten Gesellschaft, die auf einmal realisieren, daß sie unter der Herrschaft der weiten Strecke und der schnellen Erledigung lebten, legt sich um das Fahrrad ein Hauch von Souveränität.“ Wolfgang Sachs stellt den neuen „Geschmack für Gemächlichkeit“ dem gehetzten Blick auf die Uhr gegenüber, jener „markantesten Geste des Industrie–Zeitalters“. Auto und Armbanduhr gehören für ihn immer zusammen. Das Auto ist für ihn Vehikel für die Jagd nach der Zukunft, die voller Verheißungen ist. Raum und Zeit werden dabei zu Feinden. „Wenn die Zukunft alle Versprechen hält, bleibt der Gegenwart nur, sich zu beeilen. Gemächlichkeit versäumt die Zukunft, Beschleunigung wird Trumpf.“ Der Autofahrer macht den Raum zur toten Durchgangs strecke, der Radfahrer erlebt ihn, er erlebt die „Nähe als Heimat“, die Straße als Verbindungslinie für benachbarte Orte und nicht als Durchgangsstraße für fremde Ziele. Radfahren ist für Sachs auch die Entdeckung der Anstrengung. Der früher angestrebte Ersatz körperlicher Arbeit durch maschinelle Kraft erfährt jetzt seine lustvolle Umkehrung. Fahrradfahren als Ausdruck des Vertrauens in die eigene Kraft, als Fortbewegung, die Körper und Sinne nicht mehr in ein komfortables Gehäuse einsperrt. Moralische Überlegenheit Man kann den Fahrrad–Trend auch tiefenpsychologisch betrachten. Der Kölner Psychologe H. Degen hat dazu tief in die Abgründe der Fahrradfahrer–Seelen geblickt. Für ihn hat jede Fortbewegungsart auch eine seelische Komponente. Fahrradfahren steht demnach für ein Sich–Frei– Strampeln von den Beklemmungen des Alltags. Fahrrad, das heißt Überschaubarkeit, Ursprünglichkeit, kinderleichte Welt, spielerische Beweglichkeit. In Tiefeninterviews hat Degen Fahrradfahrer ausgehorcht und ihre Motive recherchiert. Fast jeder Radfahrer, so erkannte ein Teilnehmer des Symposiums, findet sich in Degens Psychogramm wieder. Das monotone Pedalieren lädt zunächst zum Tagträumen ein, zur Entspannung und Abschaltung. „Fahrradfahren ist, als ob du schwebst.“ Fahrradfahren impliziert aber auch ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Auto und dem öden Busfahren. Der Radfahrer fühlt sich als moralischer Sieger. Die vorbildhafte gute Tat zum Nutzen der Umwelt sitzt mit im Sattel. Das Überlegenheitsgefühl entwickelt sich aus einer zunächst oft erlebten Opfer– Rolle des Radfahrens, der sich in der autofixierten Gesellschaft unterdrückt und benachteiligt sieht. Zurecht. Dieses Opfergefühl schlägt dann um in moralische Überlegenheit. Wer sich über den Autoverkehr hebt, mißachtet auch dessen Regeln. Daraus erklärt sich die Ignoranz und Geringschätzung der ganz auf das Auto zugeschnittenen Verkehrsvorschriften durch die Anarchisten auf zwei Rädern. Eingenebelt von Autoabgasen, den Radfahrweg verstellt, von Schlaglöchern gebeutelt, von brüllenden Motoren überholt, von gehetzten Terminjägern abgedrängt oder ignoriert, gedeiht die Aggression gegenüber dem Auto, die im Antennenknick und zerkratzten Lack ihren befreienden Notausgang findet. Die wichtigste Erkenntnis für den Kölner Psychologen ist die „Kunst der Umdeutung“ des Radfahrers. Durch einen gekonnten Dreh hat der Pedalier die freiwillige Beschränkung auf das Fahrrad zu einem positiven Freiheitserlebnis umgestaltet. Er erkennt, daß auch in diesem Fall weniger mehr ist. Er erlebt die selbstgewählte Begrenzung eines Entwicklungsspielraumes als Steigerung. Fahrradfahrer sind schließlich, wenn man dem Psychologen glaubt, Menschen mit Ausdauer und Zähigkeit. Sie lassen „Züge einer kulturkritischen Revolte“ erkennen, sie wehren sich gegen ein Zuviel des Fortschritts. Doppelbesitzer von Fahrrad und Auto neigen zur Schizophrenie. Die jeweils eigene Fahrwelt wird nämlich zum Maßstab gemacht, und der wechselt je nach Gefährt. Die breiige Stadt Verkehrsplaner, die das Fahrrad lieben, sind gebeutelte Menschen. Beruhigend für sie ist allenfalls die planerische Erkenntnis, daß „nicht alle Dinge planbar sind, sonst hätten wir keine Fahrrad– Kultur“. Die Fahrrad–Kultur hat sich nicht dank, sondern trotz der Verkehrsplanung entwickelt. Verkehrsplanung, das heißt in Deutschland immer Planung für das Auto. Die Aufwertung des nichtmotorisierten Verkehrs ist zwar in aller Munde, so der Verkehrsexperte und Stadtplaner Prof. Kutter - Fahrradfahren ist schick -, gleichzeitig entstehen aber immer ausgedehntere Siedlungs– und Lebensstrukturen, die das Auto erfordern. Der Autokauf wird so zu einem Stück Selbstverteidigung, um den Lebensrhythmus in den zunehmend breiigeren, auseinandergezogenen Städten noch einhalten zu können. Die Nichtmotorisierten sind in jedem Fall die Benachteiligten. Helmut Holzapfel, Verkehrsplaner im Verkehrsministerium des Landes NRW, sieht düstere Zeiten kommen. Er widersprach dem beschriebenen Trend zum Fahrrad, den er in der Verkehrsplanung nirgends erkennen kann. Die autoorientierte amerikanische Stadt wird stattdessen zum Vorbild. Zwischen 1976 und 1982 hat sich der Anteil der Radwege zwar von 8,6 auf 10,2 Prozent leicht erhöht, aber gleichzeitig ist der Anteil der Fußgängerwege deutlich von 33,6 auf 29,8 Prozent zurückgegangen. Neidisch blicken da die Fahrrad–Freunde in die Nachbarländer Niederlande und Schweiz. Woher kommt deren völlig andere Verkehrskultur? Das Fehlen einer eigenen Autoindustrie mag hier wesentlich geholfen haben. In der BRD hält die Autolobby die Fäden fest in der Hand, so fest, daß resignierte Verkehrsplaner erst im Zusammenbruch des Autosystems die Chance für einen Neuanfang sehen. Manfred Kriener
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