: K O M M E N T A R Prinzip Sündenbock
■ Zum Beginn des Tschernobyl–Prozesses
Die Ursache der Tschernobyl–Katastrophe steht fest: menschliches Versagen. Die Technik ist gut und unschädlich, nur der Mensch steckt voller Fehler. Der Ingenieur, der nicht auf seinem Posten war, als der Reaktor durchging, der Kraftwerksleiter, der unerlaubte Experimente veranstaltete und die Sicherheitssysteme ausknipste. Sie sind die Schuldigen. Der Tschernobyl–Prozeß wird genau diese Argumentation bestätigen. Um die kriminelle Energiepolitik der Sowjetunion aus der Schußlinie zu bringen, um eine unbeherrschbare Technologie, der man sich ausgeliefert hat und von der man abhängig ist, weiterhin ausbauten und ohne Gewissensgau betreiben zu können, muß psychologische Entlastung geschaffen werden: das Prinzip Sündenbock. Der kleine Kraftwerksleiter und seine noch kleineren Unterlinge sind diese Sündenböcke, die das Atomzeitalter in der Sowjetunion retten sollen. Mit ihrer Verurteilung wird individuelles Fehlverhalten bestraft, um politisches Fehlverhalten zu verdecken. Die Sowjetunion hat nur sechs westliche Journalisten für die Berichterstattung zugelassen. Die Gelegenheit, vom Kraftwerk–Personal aus erster Hand Details und Original–Ton zum Ablauf des Unfalls zu erhalten, bietet sich nur wenig handverlesenen genehmen Journalisten, die vermutlich auch noch technisch überfordert sind. Die Chance zu einer öffentlichen Aufklärung des Unfalls vor einer internationalen Tribüne hat die sowjetische Regierung verspielt. Sie kann daran auch kein Interesse haben, wenn sie ein Tribunal gegen ihren eigenen Atomkurs und gegen den institutionalisierten Schlendrian verhindern will. Manfred Kriener
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