: Die Hartgesottenen sind eigentlich immer obenauf
■ Andre Kostolany, internationaler Bonvivant und Altmeister zumindest der deutschen Kapitalanleger und Börsenspekulanten, erläutert der taz aus seiner reichen Baisse-Erfahrung die Börsen...
taz: Am 19. Oktober ist wieder einmal ein Börsenzeitalter zu Ende gegangen: Es gab einen rasanten Kurseinbruch an der Wall Street. Einen Montag später gab es eine zweite Runde, die pazifische Welle, wonach auch die europäischen Börsen noch einmal einen Sturz erlebten. Dazwischen gab und gibt es immer wieder Signale der Erholung. Was passiert da eigentlich, was ist die Verlaufsform dieses Crashs? Andre Kostolany: Über dieses ganze aktuelle Zeug will ich gar nicht reden. Nein? Nein. Das ist einmal so, einmal so und kann mir gar nichts sagen. Wenn ich dieses Zickzack anschaue, werde ich nicht klüger. Sind diese Ausschläge unwichtig für das weitere Geschehen? Natürlich. Ich sehe immer in die Ferne. Sicher will ich auch die Diagnose kennen, aber die erste Regel für einen jeden Börsenspekulanten ist es, in die Ferne zu schauen. Derjenige, der jetzt jeden einzelnen Ausschlag verfolgt, Dienstag, Mittwoch, Montag, der ist ein Spieler. Als ich ein junger Mann war und Autofahren lernte, hat mir mein Fahrlehrer gesagt: „Herr Kostolany, Sie werden nie Autofahren können.“ Sag ich: „Warum nicht?“ - „Weil sie immer auf die Haube schauen. Heben Sie den Kopf und schauen Sie nach vorn, dann werden sie fahren können!“ Ich habs probiert, und es stimmte. Ab da war ich ein anderer Mensch am Volant. Die wievielte Baisse ist das denn in Ihrem Leben? Große Baisse? Na, da ist das mindestens die fünfzehnte, viellicht sogar zwanzigste. Was unterscheidet denn nun diese Baisse von den anderen? Ist diese ganz speziell? Nein. Es ist immer dieselbe Geschichte. Immer. Der Ballon schwillt, wird immer größer und größer, und wenn er ganz aufgebläht ist, dann kommt ein Stecknadelstich, und das Ganze platzt. Woher der Stecknadelstich kommt, ist ganz wurscht. Den wird man sowieso nur im Nachhinein erklären können. Mal kann sogar eine gute Nachricht der Stecknadelstich sein, das kommt eben auf die Verfassung der Börse an. Es gibt bei uns eine Kindergeschichte über böse Buben, die Max und Moritz heißen. Wer ist Max und Moritz bei unserer Börsenstory? Baker und Stoltenberg? Nein. Oder ja, das wäre nicht einmal so schlecht. Eher Stoltenberg als Baker. Ich werde Ihnen sagen, warum. Wenn ich einen verantwortlich machen kann für den Stecknadelstich - wohlgemerkt, die Börse war schon vorher unterminiert und durch die Verfassung des Marktes prädestiniert zu einem Rückschlag, sonst hätte das alles gar keine Bedeutung gehabt - dann in erster Linie Stoltenberg. Die amerikanische Regierung hat die Bundesrepublik und Japan seit Jahren gedrängt, die Konjunktur anzukurbeln. Nix, die waren stur. Stur war speziell der Stoltenberg, und darin wurde er nicht so sehr unterstützt von Pöhl, sondern von dessen rechter Hand, dem Schlesinger. Stabilität, Stabilität, haben die gepredigt, und die Amerikaner sollten ihren eigenen Haushalt in Ordnung bringen. Dabei ist das US–Haushaltsdefizit nicht schlechter als das deutsche, es ist sogar kleiner als das der Bundesrepublik. Gemessen am Bruttosozialprodukt? Na klar, wie soll man sowas denn sonst messen? Sonst kann ich ja auch Frankreich und Monacco vergleichen. Das US–Haushaltsdefizit ist sogar kleiner, nur 2,1 Prozent des Bruttosozialprodukts. Für die Bundesrepublik und noch viel stärker für Japan liegt das höher. Naja, Mark Twain hat einmal gesagt: „Es gibt drei Arten von Lügen: einfache Lügen, gemeine Lügen und Statistiken.“ So ist es. Und dann wird das Ganze auch noch absolut falsch interpretiert. Was ist aber jetzt Stoltenbergs Schuld? Das will ich Ihnen sagen. Die waren alle in Washington zur Weltbank–Tagung. Und der Baker hat wieder seine Petition vorgebracht: Macht etwas! Das Handelsbilanzdefizit ist ja gar nicht mal so groß, aber sie wollen es noch kleiner machen. Sie wollen wahrscheinlich Europa erschlagen, das wird nämlich dann geschehen. Stellen Sie sich doch nur vor, was mit den ganzen Exportnationen passiert, wenn die Amerikaner eine ausgeglichene Handelsbilanz haben oder am Ende gar einen Überschuß - dann sind deren Märkte hin. Warum schiebe ich das Ganze Stoltenberg in die Schuhe? Nun, in Washington sah es so aus, als ob es irgendeinen Kompromiß gegeben hätte, daß die Deutschen was machen. Stattdessen kommen die nach Hause und erhöhen die Zinsen... .. um ein halbes Prozent. War das eine Provokation? Das ist es ja gerade. Das war eine Unverfrorenheit, das war Chutzpe. Anstatt die Zinsen zu senken und damit die Wirtschaft anzukurbeln, macht er - wie hoch auch immer - das Gegenteil. Und da ist Baker in eine Wut geraten. Ich war nicht dabei, aber ich kann es mir vorstellen. Da hat er denen einen Warnschuß vor den Bug gegeben: Wenn das so ist, dann werde ich den Dollar noch herunterreißen und euch das Exportgeschäft versalzen. Und das war der Stecknadelstich. Aber warum das ein Stich für Amerika war, das weiß ich nicht, denn eigentlich ist es eher ein Stich für Europa. Aber die Märkte sind eben kommunizierende Röhren. Was hat die Entwicklung an den Börsen aber derartig dramatisch werden lassen? Das war das Programm–Trading, das Spekulieren in Indexen. Und die Broker, diese „bösen Geister“, um einmal Wagner zu zitieren, die haben das Publikum hereingelockt zur Index–Spekulation. Mit nur fünf Prozent Einsatz konnte jeder kleine Mann da mittun und Riesenengagements machen. Wenn jemand 10.000 Dollar hatte, konnte er ein Engagement machen von 200.000 Dollar. Sowas geht nicht an der New Yorker Stock–Exchange, das ist Chicago. An der Stock–Exchange herrschen sehr seriöse Bedingungen. Da muß man 50 Prozent Eigenkapital hinterlegen, und wenn dieser Anteil auf 30 Prozent fällt, muß man nachschießen. Die Broker und die Chicago–Boys, die haben die Indexe erfunden. Warum ist sowas Unsolides denn überhaupt zugelassen worden? Nun, Sinn machen tut der Indexhandel schon, etwa wenn Leute ein großes Portefeuille haben und nur durch zusätzliche Indexspekulationen kurzfristig sich Geld beschaffen können. Aber eben nicht mit derartig abenteuerlicher Deckung. Schon vor drei Monaten habe ich geschrieben, daß es pervers und verheerend ist, wenn es an der Aktienbörse einen Umsatz von sechs oder sieben Milliarden Dollar gibt und am gleichen Tag 25 Milliarden in Indexen umgesetzt werden. Die Indexe wurden nicht mehr danach berechnet, wie die Papiere stehen, sondern die Papiere haben sich nach den Indexen entwickelt. Das hat also mit realem Wert und realer Wirtschaft nichts mehr zu tun? Gar nichts! Man hat aus der Börse eine Spielhölle gemacht, Spielcasino wäre da glatt geprahlt. Und die Broker sind Schlepper und Croupier in einer Person. Die Broker haben keine berufliche Seriosität? Nein, überhaupt nicht. Die Broker sind Betrüger, meinetwegen ohne es zu wissen. Aber sie werden jetzt bestraft. Bestimmt sind viele unter ihnen, die Millionen verlieren werden, weil ihre Kunden nicht gedeckt sind. Jetzt sind sie dran. Das Croupier–Bild ist sehr plastisch. Wenn ich da weiterdenke, muß ich aber fragen: Wer hält die Bank? Denn es ist die Bank, die im Casino das große Geld macht, nicht die Croupiers? Gibt es also an der Börse noch andere Drahtzieher? Nein, nein, die Broker sinds und sonst niemand. Hintermänner, Drahtzieher, das sind alles linke Dunkelmänner–Theorien. Unsinn. Es sind die Broker und alles nur wegen ihrer Provision. Aber ich muß Ihnen ehrlich sagen, was meine Meinung über die Börse ist: Die Börse ist ein großer Betrug. Das ganze kapitalistische System ist ein Betrug - aber ein guter. Und was macht den Betrug gut? Warum ist der Betrug gut? Na, weil es doch alles wunderbar funktioniert. Aber es gibt doch hohe Verluste... Bei der Index–Spekulation - ja und?! Und diejenigen haben verloren, die Aktien zu hohen Kursen gekauft haben und jetzt zu niedrigen verkaufen. Welche Aktien sind denn abgestürzt? Das sind die Papiere, in denen besonders großes Spiel war, die vorher weit über ihren realen Wert hochgepuscht worden sind. Sind bestimmte Branchen besonders betroffen? Ach was, alle, alle sind betroffen. Meinen Sie, in einer Panik gibt es noch rationale Überlegungen? Aber wo, man hat geschleudert. Und eben insbesondere bei den Indexen. In dem Moment, wo die Indexe ein Prozent niedriger stehen als die Papiere, wird verkauft. Chicago, das Mekka für Indexe, hat geschleudert. Und da wird dann der Computer zu einem entscheidenden Faktor: Die Werte und Bewegungen werden blitzschnell, schneller als der Blitz noch, gebündelt - und der Abwärtstrend ist da. Da wird also die Computergeschwindigkeit zur Hexerei. Haben die Leute, die an den Computern saßen, dann versagt? Waren die zu jung und unerfahren? Sie meinen die „Golden Boys“ aus Havard mit ihren tollen Gehältern, tollen Autos und tollen Frauen? Nein, nicht versagt, die haben eben nur lernen müssen, daß Havard nicht das Leben ist. Die waren übrigens auch meist echte Spekulanten, haben sich tatsächlich engagiert. Und das hat sie sicher auch einiges gekostet, denn die waren meist selbst engagiert, aber als echte Spekulanten und nicht als Arbitrageure - das sind ja bloß Rechner. Was halten Sie von den vielen neuen Börsenplätzen? Man hatte ja nicht genug mit den einheimischen Zitterern. Das Geschäft konnte nicht aufgebläht genug sein, die exotischsten Börsen sind erfunden worden: Lissabon, Athen, Istanbul, das ist wirklich skandalös, einer der Gründe für den Crash. Die Anlagenberater, besonders die jungen, sind einfach übermütig geworden, haben neue Theorien erfunden und neue Märkte entdeckt, und sie kamen sich sehr wichtig vor, wenn sie Telegramme aus Sidney und Bangkok bekommen haben. Da sind sie eben rumgereist und haben an den ausgefallensten Plätzen Aktien aufgetan, um internationale Finanziers zu sein. Fünf oder sechs Börsenplätze genügen, alles andere ist Unsinn. Man sieht es ja jetzt. Wenn Sie heute hören, Sydney oder Bangkok hätten 20 oder 25 Prozent Verlust, stimmt das nur nominal. Real gibt es diese Verluste gar nicht, weil man überhaupt nicht verkaufen kann. New York ist nicht ohne Grund der beste Markt: Da kann man immer jeden Betrag verkaufen und kaufen. Was halten Sie davon, wenn der Crash von 1987 mit dem „Schwarzen Freitag“ von 1929 verglichen wird? Was die Dynamik der Börse anbetrifft, ist das richtig. Auch damals war der Ballon aufgeblasen, sogar so sehr, daß er ohne Stecknadel geplatzt ist. Aber die meisten meinen ja die danach einsetzende Wirtschaftskrise. Und da stimmt der Vergleich nicht mehr. 1929 hat der Börsencrash das Vertrauen in die Wirtschaft tief erschüttern können und langsam hat sich eine erstickende Deflation breit gemacht. Damals konnten die Notenbanken nicht wie heute dadurch helfen, daß sie schlicht die Geldmenge erhöht haben. Man konnte wegen der Golddeckung der Währungen nicht einfach nachdrucken. All das trifft heute nicht zu. Ich sehe überhaupt nicht den gleichen Background wie 1929, die Parallelität liegt nur in der Überspekulation, im Übermut an der Börse. Ich biete Ihnen einmal eine andere Vergleichsbasis an: Auch die Zeit rund um 1929 war eine wirtschaftliche und soziale Umbruchsituation. Die neue Schlüsselbranche Automobilindustrie war noch nicht wirklich etabliert. Heute haben wir für die absehbar neue Schlüsselbranche Computerindustrie eine ähnliche Lage: Es wird uns von beinahe unbegrenzten Einsatzmöglichkeiten und der noch fehlenden Infrastruktur erzählt. Diese eine Situation erfordert doch immense Kapitalmengen im produktiven Sektor. Viel Geld war bisher auf dem Kapitalmarkt gebunden... .. und das wird durch den Krach anders. Und außerdem werden die Zinsen heruntergehen. Die Federal Reserve, die US– Notenbank, wird mit Sicherheit Geld in die Wirtschaft hereinpumpen, damit nichts passiert. Sie sehen, wie funktional das alles ist. Und die Politik hat viel mehr Instrumente als 1929. Sie sagten vorhin, die Amerikaner würden Europa „erschlagen“ wollen. Wie kommen Sie zu dieser dramatischen Einschätzung? Na, das ist vielleicht ein bissel übertrieben, aber sie werden Europa kaputt machen. Das liegt in der Natur der Sache: Die Amerikaner sind einfach zu groß, und sie machen eine Politik, die erst einmal den Amerikanern selbst nützt. Das ist eigentlich schon alles. Nixon hat in seiner Amtszeit einmal eine zehnprozentige Abgabe auf alle Importe verhängt, das war ein schwerer Schlag für die bundesdeutsche Wirtschaft. Das war aber nur eine Importbeschränkung. Stellen Sie sich zusätzlich eine offensive Ankurbelung der amerikanischen Exporte vor! Genauso wirkt nämlich der Kursverlust des Dollar, wobei es nicht um zehn, sondern um vierzig Prozent geht, und zwar weltweit. Das ist a la longue eine Katastrophe für alle exportorientierten Länder. Dann ist zusätzlicher Protektionismus von seiten der USA gar nicht mehr nötig? Genau. Das hat sich durch die Börsenentwicklung erledigt. Vielleicht dauert es noch ein wenig, bis die verbalen Attacken abklingen, aber der Schaum ist weg bei dem Thema. Das wäre ja ein sehr günstiger Effekt für die Linie von Präsident Reagan. Es gibt nicht nur gute Effekte, Reagan macht eine sehr gute Politik, insbesondere im Verhältnis zur Sowjetunion. Die derzeitigen Verhandlungen zwischen den beiden Supermächten sind nicht nur für den Weltfrieden von großer Bedeutung, sondern auch wirtschaftlich. Ich sehe durchaus die Möglichkeit, daß sich sogar so etwas wie eine russisch–amerikanische Freundschaft entwickelt. Warum denn nicht, da sind ja gar keine vitalen Interessenskonflikte mehr, das ist doch alles Ideologie, und das ist ja nicht mehr so wichtig heutzutage. Rußland und Amerika könnten auch zu einer großen Versöhnung kommen, wie das Frankreich und Deutschland gelungen ist. Haben Sie eine Ahnung, was das bedeutet?! Sie sind ja alle so jung. Für mich gab es Zeiten, da war das gar nicht vorstellbar. Das hätte gleich nach dem Krieg auch niemand für möglich gehalten. Wenn das aber passiert, gibt das noch einmal ungeheure wirtschaftliche Impulse. Das kann schon bald anfangen, wenn nämlich im Zuge von Abrüstungsverhandlungen die USA die Boykott– Liste mit Tausenden von High– Tech–Produkten, die nicht in die Sowjetunion geliefert werden dürfen, lockern, vielleicht sogar abschaffen. Darauf warten die Russen so wie auf den Messias. Was meinen Sie, was das für ein Markt ist für IBM? Das gibt einen riesigen Wirtschaftsboom. Da wird es dann Joint Ventures geben zwischen russischen und amerikanischen Firmen. Denn Geld haben die Russen, und außerdem haben sie eine Kreditwürdigkeit erster Ordnung. Nie hat die Sowjetunion einen Wechsel platzen lassen. Alle diese Zukunftsaussichten basieren aber darauf, daß nichts Schlimmes passiert, Gorbatschow nicht abgesägt oder umgebracht wird und Reagan zum Ende seiner Amtszeit diese Politik fortsetzen kann. Denn sonst müßte ich meinen Optimismus revidieren.
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