piwik no script img

INTERVIEW

■ Die Auswirkungen des bayrischen Maßnahmenkatalogs aus ärztlicher Sicht, abseits von Prostitution und Ausländerrecht / Ängste vor einer Registrierung bei vielen PatientInnen / Interview mit Dr. Hans Jäger, Internist im städtischen Krankenhaus München-Schwabing, Autor und Forscher in Sachen Aids und Kritiker der bayrischen Aids-Politik

taz: Herr Jäger, Sie sind als Arzt direkt mit der klinisch-ambulanten und stationären Versorgung von Aids- und Aids-Vorfeld-Patienten befaßt. Wenn Sie jetzt, ausgehend von Ihrer Erfahrung in der Klinik, eine erste Bilanz zum bayerischen Maßnahmenkatalog ziehen: Haben sich die Befürchtungen der Kritiker, zu denen Sie gehören, bestätigt?

Hans Jäger: Die Auswirkungen dieses Maßnahmenkataloges sind eher überschätzt worden, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Es gibt eine Reihe von Auswirkungen, von denen wir nur indirekt erfahren, wenn wir mit Kollegen aus anderen Bundesländern sprechen. Die Kollegen berichten uns von Patienten, die aus Bayern zu ihnen kommen. Andererseits hat in unserer Ambulanz die Zahl von Patienten, die hier beraten oder behandelt werden, laufend zugenommen.

Hat die Fluchtbewegung aus Bayern nicht in dem Maße stattgefunden, wie angenommen werden mußte?

Das ist richtig. Wir haben nicht das Gefühl, daß Patienten in nennenswertem Umfang abgewandert sind. Und wir sehen dies auch auf prä-klinischer Ebene bei den Gesundheitsämtern. Der freiwillige HIV-Test wird dort durchaus in Anspruch genommen. Die Zahlen sind in den letzten Monaten eher gestiegen, nachdem sie vorübergehend Mitte letzten Jahres etwas gefallen waren.

Die Landesregierung hat in ihrer Bilanz eine Reihe von Zahlen vorgelegt, die den Blick auf die konkrete Handhabung ihres Katalogs aber eher verstellen. Wie beurteilen Sie die alltägliche Umsetzung?

Im Alltag sehen wir, daß es tatsächlich bei einer ganzen Reihe von Menschen zu konkreten Ängsten kommt. Die Patienten kommen mit diesen Ängsten zu uns, z.B. daß sie von uns gemeldet werden als drogenabhängig oder homosexuell, was nicht stimmt.

Wir melden niemanden, und wir sind auch nicht dazu aufgefordert worden. Wir Behandler, Ärzte, Krankenschwestern, Psychologen, Seelsorger müssen uns also mit diesem Phänomen z.T. irrealer Ängste auseinandersetzen. Manchmal läßt sich das im Gespräch klären. Aber es gibt auch eine Reihe von Patienten, die diese Ängste weiter mit sich herumtragen.

Gibt es knapp ein Jahr nach dem Beschluß des Maßnahmenkatalogs die Möglichkeit eines Vergleichs der bayerischen Linie mit anderen Bundesländern?

Ich kann aus meiner Sachkenntnis sagen, daß der Weg, den die Bundesregierung und die übrigen Länder beschreiten, nach meiner festen Überzeugung der bessere ist, aber zahlenmäßige Belege stehen noch aus. Dafür ist es jetzt noch zu früh. Wir wissen aber aus den Hautkliniken, daß die Zahl der sexuell übertragbaren Krankheiten in allen Bundesländern einschließlich Bayern eindeutig zurückgeht. Diesen Trend sehen wir in den USA leider nicht so deutlich. Und unsere Untersuchungen zeigen auch, daß sich das Sexualverhalten bei homosexuellen Männern nachweislich geändert hat in Richtung Safer Sex. Und ich glaube, daß auch in der heterosexuellen Bevölkerung manches in Bewegung gekommen ist.

Hat die bayerische Linie trotz ihrer repressiven Tendenz auch irgendwelche günstige Auswirkungen?

Ich möchte hier auf zwei Dinge hinweisen. Zum einen gibt es die Verordnung für Prostituierte, mit Kondomen zu arbeiten. Natürlich ist das kaum zu kontrollieren. Aber es ist für die Prostituierten wichtig, daß sie gegenüber ihrem Zuhälter oder Arbeitgeber eine Handhabe haben. Das zweite ist, daß hier in Bayern seit Anfang des Jahres jeder Hausarzt einen HIV-Test anonym und kostenlos durchführen kann. Man muß also nicht ins Gesundheitsamt gehen. Ich hoffe allerdings, daß auch die Hausärzte eine entsprechend intensive Beratung durchführen.

Von Ihrer Seite und auch vom Bundesgesundheitsamt kam zuletzt ein vorsichtiger Optimismus in Sachen Aids. Ist es dafür nicht zu früh?

Ich glaube, daß vorsichtiger Optimismus durchaus berechtigt ist. Denn die Zahlen der bekanntgewordenen Infizierten sind längst nicht so hoch, wie wir vor zwei Jahren noch geschätzt haben. Ich selbst habe Anfang 1986 etwa 250.000 Infizierte für die Bundesrepublik angenommen. Wir hatten Anfang dieses Jahres 15.000 Infizierte, die anonym in den Labors bei Tests bekanntgeworden sind. Auch wenn man eine hohe Dunkelziffer hinzurechnet, kommt man noch nicht in den Bereich von 100.000. Das zweite wichtige Indiz ist, daß die Blutbanken, die seit Jahren viele Millionen Tests gemacht haben, keine deutliche Zunahme von infizierten Blutproben feststellen konnten.

Das hat doch auch damit zu tun, daß die Risiko- Gruppen gar nicht mehr zum Blutspenden gehen.

Das ist sicher richtig, aber wir sehen an diesen Zahlen – und das sehen wir auch in der Ambulanz – daß unter den Infizierten der Anteil aus der sogenannten Allgemein-Bevölkerung konstant niedrig bei etwa fünf Prozent bleibt, also keineswegs zugenommen hat. Die rasante Ausbreitung des Virus, die von einigen Stellen propagiert wird, findet also bisher nicht statt. In den USA wurde außerdem festgestellt, daß die Ausbildung des Vollbildes von Aids deutlich langsamer geht, als dies noch vor zwei Jahren zu vermuten war. Von denjenigen Menschen, die seit sieben Jahren HIV-infiziert sind, haben ein Drittel das Vollbild entwickelt. Diese Verzögerung ist sehr wichtig, weil die Wissenschaft dadurch bessere Chancen erhält, Therapeutika zu entwickeln. Auch da ist vorsichtiger Optimismus angesagt. Schon jetzt können wir sagen, daß die Hälfte unserer Patienten, die „Retrovir“ (AZT) bekommen, schon gestorben wären, wenn wir ihnen nicht dieses Medikament anbieten könnten. Und der therapeutische Fortschritt wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen, während wir einen Impfstoff in nächster Zeit kaum erwarten können. Interview: Manfred Kriener

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen