: Wo bleibt das flächendeckende Kondom?
■ Thema AIDS auf dem Berliner Psychologen–Kongreß / Mehr Optimismus und mehr Realismus gefordert / Zur Anatomie einer „extrem schwer übertragbaren Krankheit“ / Gegen Diskriminierung und Zwangsmaßnahmen /“AIDS hat manchem eine Karriere ermöglicht“
Von Manfred Kriener
Berlin (taz) - In die Diskussion um AIDS ist ein - noch wackliger - Optimismus zurückgekehrt und ein wieder mit mehr Selbstbewußtsein vertretener Kurs der Anti–Hysterie und der „realistischen Einschätzung einer extrem schwer übertragbaren Krankheit“ (der Berliner Soziologe Rolf Rosenbrock). Psychologen, Mediziner und Sexualwissenschaftler diskutierten auf dem Kongreß für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Donnerstag in Berlin das Gesundheitsproblem Nummer eins. Ist es das wirklich? Rolf Rosenbrock sieht die Wahrnehmung von AIDS „um Dimensionen aus dem Ruder gelaufen“, geschürt von einem Medienrummel, der aus der explosiven Mischung von (Homo)Sexualität, Promiskuität, Huren, Orgien, Sucht, Kriminalität und Tod ein gut konsumierbares Gebräu anrichtet. Ergebnis: eine „zischende Hysterie“, so Rosenbrock. Bei keiner anderen Krankheit würden Statistiken geführt, die Tote und Kranke in einer gemeinsamen monatlichen Bilanz aufaddieren. Rosenbrock verlangte stattdessen eine Halbjahres–Übersicht mit der Zahl der tatsächlichen Neuerkrankungen. Danach würden gegenwärtig in der Bundesrepublik 360 Menschen binnen sechs Monaten an AIDS erkranken. Die große potentielle Ausbreitungsdynamik von AIDS wollte der Sozialwissenschaftler nicht bestreiten, doch eine konsequente Kondom–Anwendung bei „penetrierendem Geschlechtsverkehr außerhalb monogamer Beziehungen“ und die Anwendung von sterilen Spritzbestecken würden die Zahl der Neuinfektionen um mehr als 99 Prozent verringern und AIDS wäre bald eine „exotische Krankheit“. Rosenbrock wetterte gegen die krachlederne Repression, gegen verklemmte, sexualfeindliche Süßmuth–Kampagnen und forderte Kondome flächendeckend. Eine Breitseite gegen die Halbgötter in weiß schoß die Heidelberger Psychologin Sophinette Becker ab. „AIDS hat manchem, der sonst in der Medizin nichts mehr geworden wäre, eine neue Karriere ermöglicht“. Es sei gefährlich und ärgerlich, daß sich viele Ärzte wie selbstverständlich mit scheinbarer Kompetenz zu allen möglichen nicht–medizinischen Fragen äußern, bis hin zum Immobilienmarkt, der angeblich durch AIDS bedroht sei. Gleichzeitig würden viele Ärzte Vorstellungen von einer Selbstverschuldung der Krankheit AIDS (außer bei Blutern) konservieren. Dem Frankfurter Professoren–Team Helm/Stille warf Becker vor, in ihren Studien Homosexuelle allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer „Risikogruppe“ mit einer Krankheits–Klassifizierung zu versehen. Von vielen Ärzten würden Patienten oft kränker gemacht, als sie sind und „solange von Stadium zu Stadium gejagt bis sie endlich AIDS haben“. Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch forderte eine Umkehrung der durchweg negativ formulierten (Über)– Lebenschancen von Infizierten. Die San–Francisco–Studie habe gezeigt, daß nach sieben Jahren Beobachtung 30 Prozent der Virusträger die Krankheit AIDS bekommen. Aber: „Warum sagt denn keiner, daß 70 Prozent nach sieben Jahren noch kein AIDS haben?“. Sigusch korrigierte eine von ihm in vielen Zeitungen zitierte Aussage, wonach für die heterosexuelle Bevölkerung überhaupt kein Ansteckungsrisiko bestehe. Dies treffe nicht zu, allerdings sei dieses Ansteckungsri siko tatsächlich sehr gering. Die Ausbreitung des Virus in die sogenannte Allgemeinbevölkerung habe bisher nicht stattgefunden. In Sachen „Kondom–Pflicht“ blieb Sigusch zurückhaltend: Das „aufgeklärte Subjekt“ müsse selbst entscheiden, ob und in welchen Situationen es sich mit Kondomen schütze. Einen extrem schweren Stand hatte die Vertreterin des Süßmuth– Ministeriums Xenia Scheil–Adlung vor dem FU–Auditorium. Doch mit geschickten Hinweisen auf die bayerische Linie konnte sie das Schlimmste verhindern. 135 Mio Mark investiere die Bundesregierung jährlich in ihr Sofortprogramm AIDS. Zwangsmaßnahmen seien für Bonn derzeit kein Thema, und eine hohe Akzeptanz für die Politik des Ministeriums sei nachgewiesen. Einen Sturm der Empörung löste ihr Hinweis auf die gesunkene Zahl der Neuinfektionen unter den Homosexuellen in San Francisco aus, den sie mit der erfolgreichen AIDS–Politik a la Süßmuth in Verbindung brachte. Ein wütender Sigusch schnaubte: „Die schwer erkämpften Erfolge der Homosexuellen– Bewegung in San Francisco haben mit der Politik der Bundesregierung nicht den Dreck unter dem Fingernagel zu tun“. Frank Rühmann vom Hamburger Institut für Sozialforschung resumierte die lange Liste der Diskriminierung der Homosexuellen durch AIDS. Das alte Verständnis von Homosexualität als Krankheit greife wieder Platz. Das Bild vom Homosexuellen sei ausschließlich durch die Krankheit AIDS gekennzeichnet. Auf die in der Schwulen–Bewegung in Gang gekommene Diskussion über Promiskuität und Beziehungsformen ging Rühmann nicht explizit ein. Er kritisierte allerdings, daß AIDS Veränderungen in der Subkultur ausgelöst habe, die „weitgehender sind als eigentlich notwendig wäre“. Eine Diskussion, in der durchweg gegen Diskriminierung und Zwangsmaßnahmen argumentiert wurde, beschloß die Veranstaltung.
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