: „Der Sklave in mir“
■ Vor 20 Jahren, am 4.April 1968, wurde Martin Luther King ermordet
Von Theodor T. Heinze
Amerikas Süden, fünfziger Jahre: In den Bussen müssen schwarze ihren Sitzplatz für Weiße aufgeben. Schulen, Bibliotheken, Parks, Toiletten, Restaurants sind nach Rassen getrennt. Löhne und Arbeitsbedingungen sowie Mieten richten sich nach der Hautfarbe. Im Cotton Belt, dem ehemaligen Gebiet der Baumwollplantagen, sind die Schwarzen ohne ökonomische und Bildungschancen. Verordnet ist ihnen eine Onkel–Tom–Mentalität des Yes Sir, des grinsenden Bluesmusikers oder der guten Mammi. Den Sklavenkindern fehlt das Selbstwertgefühl. Martin Luther King hat als Junge Angst, einen Melonennachtisch zu essen, weil ihn das mit den rassistischen Schimpfwort watermelon man identifiziert. Orte gemeinsamer Identitäts bildung sind nur die schwarzen Kirchen, die Entspannung von Diskriminierungsalltag gewähren und Black Pride, schwarze Selbstachtung kultivieren. Dem Pfarrersohn King wird als Theologiestudent auch die Ventilfunktion der Kirchen klar. Sie bewahren zwar viele Schwarze vor dem Wahnsinn, der Kriminalität und Obdachlosigkeit, wie sie auf den Straßen Chicagos und New Yorks alltäglich sind. Aber die Kirchen wirken auch als Ordnungsfaktor weißer Herrschaft, indem sie Ekstase kontrollieren, Versöhnung propagieren, die Mittelstandswerte von Harmonie, Pünktlichkeit, Sonntagskleidung und Rechtschaffenheit zelebrieren und jede Artikulation in die Gemeinde zurückbinden. Der Busstreik In Montgomery weigert sich 1955 ein schwarze Frau, ihren Sitzplatz im Bus einem Weißen zu geben. Im Anschluß kommt es zu einem einjährigen Busstreik. Er bildet den Auftakt zur Entstehung einer neuen Öffentlichkeit der USA, die auf Erfüllung der amerikanischen Bürgerrechte drängt. Als Kleinstadtpfarrer wird King mit 26 Jahren zum Sprecher der schwarzen Streikbewegung. Er garantiert als Vertreter absoluter Gewaltlosigkeit, daß die Thematisierung von Rassenproblemen in den Schranken moralischer Anklage bleibt. Unter seinem Einfluß werden Sit– Ins, Konsumboykotte, Wählerregistrierung, gemeinsames Singen, Demonstrationen und die Provakation von Massenverhaftungen zu geltenden Medien politischer Wortergreifung im Süden. Allerdings ohne Erfolg, denn die weißen Südstaatler bekennen sich mit Worten und Attentaten zum Rassismus. Erst eine Gerichtsentscheidung hebt die Rassentrennung in Bussen auf. Ein erster formeller Sieg. Praktisch bedeutet jedes Aufbegehren immer noch Arbeitslosigkeit, Gefängnis, Gewehrläufe. Wegen eines nicht ordnungsgemäß umgeschriebenen Führerscheins erhält King sechs Monate Arbeitslager. Die harten Fronten im Süden stören die liberale Optik der Demokratischen Partei. Mehrfach intervenieren von Washington aus die Kennedeys und besorgen sich so die fehlenden Stimmen für die Präsidentschaft 1960. Dem Busstreik folgt eine zehnjährige Serie von exemplarischen Aktionen. In mehr als 100 Orten, vor allem in Albany, Birmingham und Memphis, werden Blockaden, Kundgebungen, und Märsche durchgeführt. Die Polizei reagiert mit Wasserwerfern, chemischer Keule und Schüssen. Allein 1961 kommen 3.600 Personen ins Gefängnis, über 250 erhalten Berufs– und Studienverbote. Die schwarze Geschichte liest sich als ein Serie von Opfern. Jeden Monat werden Sympathisanten, Pfarrer, Leserbriefschreiber, sogar Leute, die Schwarze im Auto mitnehmen, ermordet. Noch 1987 bringen in Chicago weiße Jugendliche einen Schwarzen um, als er mit einer Panne am Straßenrand steht. Zweifel King kann den Rassismus nicht ändern, aber für das Unrecht sensibilisieren. Er tourt durch zahlreiche Städte und spricht vor fast allen Schwarzenorganisationen. Eindringlich vertritt er den gewaltlosen Widerstand, beharrt aber auf der Kraft einer unnachgiebig verdichteten, herausfordernden Kritik, uramerikanisch: „Ich hege keinerlei Befürchtungen über den endgültigen Erfolg unseres Kampfes. Wir werden das Ziel, das Freiheit heißt, in Birmingham und allerorts erreichen, denn das Ziel Amerikas ist eben die Freiheit.“ In den schwarzen Ghettos des Nordens, mit höherem Bildungsstand und selbstbewußter Tradition, waren bereits Zweifel aufgekommen, ob der amerikanische Traum auch für die Schwarzen gemeint war. Von dort vertritt Malcolm X, der aus seiner Jugend als Dealer und Zuhälter in Chicago und Harlem das schwarze Milieu von unten kennt, gegen King einen radikal antiintegrationistischen Kurs. Auch an den Hochschulen gewinnt die kirchliche Position Kings keine Anhänger. Hier dominieren die Black Panthers, die nicht an Gleichberechtigung im weißen Amerika glauben. Die kochende Wut macht sich in Chicago mit Plünderungen, Bränden und Angriffen auf die Polizei Luft. Vom Norden aus sind die Gründe für Kings Mäßigung schwer zu erkennen: im Süden wird sofort geschossen, das FBI führt gegen King gewaltige Abhör– und Verleumdungskampagnen, sein Haus wird bombardiert, gegen ihn rollen Prozeßlawinen. King spricht vor Gericht von seiner Angst als „dem Sklaven in mir“. Die Ambivalenz von Furcht und Widerstand zieht sich durch sein gesamtes Leben. In einem privaten Gespräch sagt er: „Vielleicht ist die Zeit für Gewalt gekommen. Vielleicht müssen wir aufgeben. Die Nation hört nicht auf uns.“ Im öffentlichen Reden aber erklärt er: „Wir sind dazu berufen, Thermostaten zu sein, die die Temperatur einer Mehrheitsmeinung anzeigen.“ Als 1966 beim Protestmarsch verschiedener Organisationen der schwarze Studentenvertreter James Meredith angeschossen wird, artikuliert sich der radikale Flügel deutlicher. An das von King angestimmte Lied I love everybody, I love everybody in my heart dichten sie Strophen wie I just told a lie, I just told a lie in my heart. Der Marsch auf Washington Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung ist der Marsch auf Washington, an dem 1963 eine Viertelmillion Menschen teilnehmen. King, der dort als moralischer Führer der Nation angekündigt ist, hält seine berühmte Rede: „Ich habe einen Traum, daß eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird.“ Für diese Vision und seine Kritik des Vietnam–Kriegs wird ihm ein Jahr später der Nobelpreis verliehen. King darf Willy Brandt in Berlin und den Papst in Rom besuchen. Währenddessen fragen andere Schwarze, worin die Identität der Afro–Amerikaner denn noch bestehen soll, wenn sie in den USA erst einmal integriert seien. Für Malcolm X war „The Washington Farce“ ein „Picknick, das die Inszenierungen Hollywoods noch übertraf“. Er antwortet auf Kings Parole, es werde „weder Ruhe noch Rast in Amerika geben, bis dem Neger die vollen Bürgerrechte zugebilligt werden“, mit der Frage: „Wer hat je wütende Revolutionäre angehört, die barfuß zusammen mit ihren Unterdrückern Gospels singen - und die Masse der Schwarzen in Amerika hat einen Alptraum.“ Für beide, Malcolm X und Martin Luther King, kam die Wahrheit aus den Gewehrläufen. Malcolm X wird 1965 von Schwarzen erschossen. King lebt drei Jahre länger. 1968 trifft ihn die Kugel eines weißen Berufskillers. Bei den anschließenden Rassenunruhen sterben 34 Menschen. In einem offenen Brief aus dem Gefängnis von Birmingham hatte King geschrieben: „Vielleicht bin ich hin und wieder einmal zu optimistisch gewesen. Vielleicht ist die organisierte Religion zu unlösbar mit dem status quo verbunden, als daß sie noch fähig wäre, unser Volk und die Welt zu erretten.“
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