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Als Militante(r) wird man nicht geboren ...

Die Leute auf dem besetzten Lenne-Dreieck an der Berliner Mauer müssen mit einem ständigen Beschuß von Gasgranaten und Wasserwerfern leben / Stellungskrieg soll die Räumung vorbereiten / Die Gegenwehr wird kleiner  ■  Aus Berlin Hans-Martin Tillack

Montagabend, 22 Uhr. Es ist jetzt dunkel über dem Berliner Lenne-Dreieck. Aber unvermindert schlagen ständig die Patronen mit Tränengas im Hüttendorf ein. In rascher Geschwindigkeit fahren zwei Wasserwerfer die Bellevuestraße vor dem Dorf auf und ab und bedecken die Hütten, Türme und Zelte des Dorfes mit ihren nassen Kanonaden.

Nur noch mit Mühe gelingt es den Besetzern, vor einschlagenden Gaspatronen kreuz und quer zu flüchten, Brände an Zelten zu ersticken und einige Kartuschen wieder aus dem Dorf zu werfen. Einer der harten Kämpfer, der am Abend zuvor noch vorne an der Barrikade stand, sitzt jetzt ganz hinten an dem Wall, der das Dorf rückwärtig vor Angriffen schützen sollte und reibt sich die Augen: „Es gibt gar keine Gegenwehr mehr“, klagt er. „Es geht nur noch um das verzweifelte Raushauen von Sachen.“

Es sind an diesem Montagabend ohnehin schon weniger Menschen auf dem Gelände, als am Abend zuvor. Die meisten der Besetzer haben sich jetzt im Moment an einer Stelle versammelt, die die Polizei mit ihrem Gasbeschuß nicht mehr erreicht. Nur noch wenige sind es, die kurz nach vorne rennen, um einen Stein gegen die Polizei-Wannen und Wasserwerfer zu schleudern. Keuchend kommt einer nach hinten: „Fünf Bullen haben ganz flach auf uns gezielt. Und sie haben auch auf die Zuschauer geballert.“ Der Grund wird gleich klar. Ein Ruf kommt von vorne: „Von draußen werden die Bullen angegriffen! Da kommen Leute aus Kreuzberg!“ Jubel ergreift die Menge. Doch der Gasnebel vorne am Einlaß wird immer dichter. Und der nächste Ruf dämpft die Stimmung erneut: ein Sanitäter wird verlangt, vorne hat eine Patrone einen Besetzer schwer verletzt.

Als kurz darauf zwei Rotkreuzwagen vorfahren, stellt auch die Polizei den Beschuß ein. Über Lautsprecher bietet sie Verhandlungen an. Die Besetzer nehmen das Angebot an - doch erst nach längerer Diskussion. „Denen sind doch bloß die Gaspatronen ausgegangen“, antwortet einer denjenigen, die auf das ungleiche Kräfteverhältnis hinweisen und auf Rückzug plädieren.

Mit der Prognose lag sie falsch, doch ihre Erinnerung war richtig. Bevor der Polizei-Einsatz kurz nach 19 Uhr begonnen hatte, lag eine friedliche Nachmittags-Stimmung über dem endlich mal wieder sonnenbeschienenen Platz. Ein ganz besonders mutiger Dörfler hatte allerdings um 17.30 Uhr das Nummernschild eines Wasserwerfers abmontiert, und vorne beobachteten daraufhin einige Besetzer, wie ein Grünuniformierter Gaskartuschen an seine Mannschaft verteilte. Eine halbe Stunde später brach der Angriff los. Um 21.15 Uhr, als die Polizei das zweite Mal ihre drei Wasserwerfer vorfuhr, hatten lediglich einige Besetzer an dem Zaun gerüttelt, den die Polizeitruppen vor zwei Wochen als permanente Provokation installiert hatten.

Es war nun der dritte Abend, den die Polizei zu ihren offensichtlich wohlvorbereiteten Kanonaden genutzt hatte. Obwohl die Gegenwehr der Besetzer jedesmal kleiner wurde, gerieten die Polizei-Einsätze immer heftiger. Nach den abendlichen Angriffen können die Schlafsäcke nicht mehr trocknen, die Zelte stinken nach Reizgas. „Natürlich wollen die uns mürbe machen“, meint ein Besetzer. Direkt eingreifen können die Truppen des Berliner Innensenators Kewenig immer noch nicht, also verlegen sie sich auf eine Form des Einsatzes, für die die Vokabel „Krieg“ sich zumindest für mitteleuropäische Verhältnisse einfach aufdrängt.

Es ist ein Stellungskrieg, eine Materialschlacht, in der die Polizeitruppen den Besetzern allemal überlegen sind.

Einen gravierenden Nebeneffekt nimmt Kewenig dabei offensichtlich gerne in Kauf: „Hier werden doch Terroristen produziert“, schimpfte eine Besetzerin am Montagabend. Kewenig radikalisiert hier in der Tat nicht nur diejenigen im Dorf, die schon immer gegen den Polizeistaat kämpfen wollen. Bisher waren sie eine Minderheit unter den Besetzern und wurden von den anderen stets heftig kritisiert. Doch nun trifft man während der Gasangriffe immer wieder Menschen im Dorf, die eine Wandlung durchgemacht haben: „Bisher habe ich ja nichts gemacht. Aber jetzt wehre ich mich auch.“

Mit bemerkenswerter Unlogik forderte Berlins CDU -Generalsekretär Landowsky am Montag „den friedlichen Teil der Besetzer“ dazu auf, das Hüttendorf zu verlassen. So könnten sie sich am besten gegen den „kriminellen Kern zur Wehr setzen“. Damit arbeitet er auf etwas zu, was auch die Polizei-Einsätze provozieren können, was viele in der Stadt befürchten: ein „Gemetzel“ am Tag der Räumung.

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