: Mechtersheimers Zweideutigkeiten
■ Deutsch-nationale Untertöne und gesamtdeutsche Obertöne des grünen Abrüstungsexperten Alfred Mechtersheimer in seinem Nachdenken über das unterworfene und besetzte Deutschland / Gemeinsame Beteiligung beider deutscher Staaten an den UN-Friedenstruppen als Prozeß des nationalen Erwachens?
Der Sozialdemokrat Carlo Schmid, einer der Gründer der Bundesrepublik, nannte, als er nach seiner „größten politischen Leistung“ gefragt wurde, eine Grundgesetzvorschrift: die Vorschrift nämlich, die der Bundesrepublik den Verzicht auf volle Souveränität auferlegt. Sie kann nicht von sich aus den Krieg erklären, sondern nur Krieg führen im Rahmen des NATO-Bündnisses. Vor allem mit diesem Passus wird in unserer Verfassung die historische Schuld des nationalsozialistischen Krieges angenommen. Zugleich ist er ein Vorgriff auf die Idee einer internationalen Gesellschaft.
Es verwundert nicht, daß eine derartige Einschränkung für das deutsche Militär eigentlich eine latente Identitätskrise hervorruft. Schließlich tendiert es dazu, sich - wie jedes Militär überhaupt - als Sanktionsmacht nationaler Souveränität zu verstehen. Wenn deutsche Tanker im Golf von Persien hochgehen, warum soll da nicht eigentlich die Bundesmarine eingreifen dürfen?
Nun gab es in der vergangenen Woche einen Vorstoß der SPD -Abgeordneten Norbert Gansel und Hermann Scheer, in der dieser geschichtliche, verfassungsgeschichtliche Hintergrund merkwürdig verdeckt angeschnitten wurde. Sie forderten die Teilnahme der Bundeswehr an den UNO-Friedenstruppen und bezogen sich auf die aktuelle Aufgabe der Friedenssicherung am Golf. Die CDU reagierte auf diesen Vorschlag mit verfassungsrechtlichen Bedenken, die nur auf den ersten Blick merkwürdig sind. Tatsächlich favorisiert sie bei einem Einsatz von Bundeswehreinheiten für die UNO eine Verfassungsänderung. Die UNO-Beteiligung als Hebel, um die eingeschränkte Souveränität der Bundesrepublik aufzuweichen. Gleichzeitig gibt es allerdings in der CDU eine andere, ebenso bedenkliche Linie, die von der Grundgesetzinterpretation des jetzigen Verteidigungsministers Scholz repräsentiert wird. Ihm zufolge sei die „Out-of-area„-Vorschrift, das heißt Bundeswehreinsatz nur innerhalb des NATO-Gebietes, gar nicht durch das Grundgesetz zwingend begründet. Entsprechende Arbeitspapiere gibt es auch im Verteidigungsministerium.
Gerade solche Symptome aber, den alten Verfassungskonsens aufzulösen, war der Anlaß des Vorstoßes von Gansel und Scheer. Sie wollten mit dem UNO-Vorschlag den „Verfassungskonsens stärken“, so Gansel gegenüber der taz, und die „Bindungen der deutschen Geschichte nutzbar machen“.
Zur gleichen Zeit forderte der grüne Abrüstungsexperte Alfred Mechtersheimer das Gleiche, das heißt, fast das Gleiche: Auch er wünschte die Beteiligung an der UNO -Friedenstruppe, aber er regte in diesem Zusammenhang gemeinsame Manöver von Bundeswehr und NVA an. Außerdem erwähnte er, daß nach den bundesdeutschen Gesetzen es ja die absurde Konsequenz gebe, daß ein „gefangener“ NVA-Soldat 100DM Begrüßungsgeld erhalten müsse. Mechtersheimer interessierte sich also nicht für den Verfassungskonsens, sondern für eine gesamtdeutsche Utopie, in der sich Abrüstung und „Raus aus der NATO“ verbinden.
Auf diesen Vorschlag reagierte der grüne Bundesvorstand pikiert und sehr ernst: In einer Presseerklärung wurde davor gewarnt, mit solchen Ideen „die berechtigten Ängste der Nachbarn Deutschlands in Ost und West vor einem Wiedererstarken eines gesamtdeutschen Militarismus“ hervorzurufen. Der Fraktionsvorstand erklärte, es sei „nicht die Position der Fraktion“.
Mechtersheimer schien die Lacher auf seiner Seite zu haben. In einer Presseerklärung „Zur Politikrelevanz unkonventioneller Vorschläge“ betonte er die Ironie seines Vorschlags, siehe Begrüßungsgeld, und sprach vom „grün deutschen Bierernst“. Er habe die „Absurdität der Rüstung in Mitteleuropa“ deutlich machen wollen.
Die Grünen haben vielleicht ungeschickt reagiert, sie kannten aber ihren Mechtersheimer. Für ihn ist das deutsche Territorium nicht nur gefährlich hochgerüstet, sondern vor allem auch besetzt. Bei einer Diskussion zum 17.Juni dieses Jahres forderte er den Ausbruch aus der „Besatzungsakzeptanz“. Oder als „Fremdstationierung in Friedenszeiten“ ( Interview in der 'Weltwoche‘ vom Juni '87), die in der Weltgeschichte „beispielslos“ sei. „Amerikanismus“ ist für ihn die Ideologie der unterworfenen Deutschen. An ihm würden die Grünen um Otto Schily festhalten. Mechtersheimer fordert auf, weiterzudenken, tabuisierte Gedanken zu wagen. Deswegen kritisiert er in der zitierten Presseerklärung diejenigen Grünen, denen „wohl die Lage von '48 und die Träume von '68 den Blick für '88“ verstellen.
Die Lage von 1948, das war das Grundgesetz; die Träume von 1968, das war der Internationalismus, die Verachtung allen Nationalen. Was lehrt also der Blick für 1988? In der 'Weltwoche‘ sagt es Mechtersheimer: „Das nationale Element wird in letzter Zeit stärker betont.“ „Eigentlich geht es gar nicht um eine Raketendiskussion, sondern um die deutsche Frage“ und „um die Neuordnung Europas“. Dabei solle man bedenken: „West- und Ostdeutschland bestehen als gewachsene (!) Einheit im Bewußtsein der meisten Deutschen fort.“ Selbstverständlich soll es ein grünes Gesamtdeutschland sein.
Die Abrüstung als Prozeß des nationalen Erwachens wahrzunehmen oder zu definieren, das ist nicht nur Mechtersheimer Spezialität. Auch der Chef der „Stahlhelmfraktion“, Alfred Dregger, macht sich Sorgen, was aus Deutschland hüben und drüben wird, wenn durch die Abrüstungspolitik der Supermächte die BRD aus dem „uneingeschränkten Risiko- und Abschreckungsverbund“ gelöst wird. Deutschland als Opfer einer neuen Kurzstreckengeneration? Dregger sprach im März auf seiner USA-Reise von der „konventionellen Sonderbedrohung“ Deutschlands, das heißt von nationalen Interessen, die den Interessen der USA entgegenstehen. So betonte er ganz im Sinne von Mechtersheimer: „Die Amerikaner sind nicht unsere Überväter.“ Allerdings Mechtersheimer versteht das schärfer zu formulieren. Bei der Bundestagsdebatte vom 9.März anläßlich der Erklärung der englischen Premierministerin Thatcher, wonach eine Modernisierung der Kurzstreckenraketen anstehe, sagte er: „Damit hat die britische Politikerin offengelegt, worauf die NATO aufgebaut ist, nämlich auf der territorialen Ausbeutung des früheren Kriegsgegners. Das ist die wirkliche Singularisierung.“ Der frühere Kriegsgegner? Das war doch der Nationalisozialismus. Heißt, weg von der „Lage 1948“, dies vergessen? Ist Mechtersheimer ein deutsch -nationaler Grüner, oder ein grüner Deutsch-Nationaler?
Bedenklicher als seine Formulierung ist die rhetorische Methode: In allen seinen Äußerungen geht ineinander über das Ressentiment gegen Unterdrückung, die Andeutung, daß die objektive Tendenz diese Fragen ohnehin aufwerfe, Polemik gegen die, die immer noch an der deutschen Vergangenheit leiden. Und „deutsche Singularität“ heißt, daß Deutschland allein steht. Für die Rechten stand Deutschland immer allein, es sei denn, es hatte einen kleinen Finger am großen Atomknüppel. In der 'Weltwoche‘ klagt Mechtersheimer: „Es könnte jemand kommen, davor habe ich tatsächlich Angst, der sagt, Versailles sei eine Lappalie gegenüber dem Ist -Zustand, den wir hier haben und der unsere Souveränität beschneidet.“ Das Wort „Versailles“ in den Mund zu nehmen, davor haben sich auch die rechtesten Unionspolitiker immer gehütet. Mechtersheimer warnt davor, aber er nimmt es in den Mund.
Klaus Hartung
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