: Bewußte Nachlässigkeit um Umgang mit Nazis
Tausende von Nazi-Kriegsverbechern fanden in Großbritannien Zuflucht / Michael May, sellvertretender Direktor des Londoner „Institute of Jewish Affairs“, erläutert in einem Interview Ursachen / Regierung setzt auf Verzögerungstaktik ■ Aus London Rolf Paasch
Vor einigen Tagen veröffentlichte „War Crimes Group“ des britischen Parlaments einen Bericht, demzufolge nach dem Zweiten Weltkrieg Tausende von Nazi-Kriegsverbrechern und Kollaborateuren in Großbritannien Zuflucht finden konnten, ohne auf ihre Vergangenheit hin überprüft zu werden. Der Bericht des informellen Parlamentsausschusses zeichnet das Bild einer Nachkriegsregierung unter Labour-Premier Attlee, die Wissenschaftler und Spione rekrutieren wollte; einer Regierung, der die qualifizierten Arbeitskräfte aus Osteuropa für britische Fabriken und Bergwerke hochwillkommen waren und der, so der Kommissionssekretär Greville Janner, „völlig gleichgültig war“, ob es sich hierbei auch um Kriegsverbrecher handelte. Trotz des in den letzten Jahren wachsenden Drucks der Öffentlichkeit, hat die Regierung Thatcher eine Behandlung der Kriegsverbrecher -Problematik immer wieder hinausgezögert. Erst nachdem das Simon-Wiesenthal-Zentrum dem Innenministerium vor Jahresfrist eine Liste mit mutmaßlichen, noch in Großbritannien lebenden oder bereits gestorbenen Kriegsverbrechern vorgelegt hatte, setzte Innenminister Hurd eine Untersuchungskommission ein. Diese wird im Frühjahr darüber befinden, ob die Beweislage gegen die Verdächtigen dazu ausreicht. Eine Gesetzesänderung herbeizuführen, die für eine Strafverfolgung der mutmaßlichen Kriegsverbrecher in Großbritannien nötig wäre. Die taz sprach über den verspäteten Umgang mit der Kriegsverbrecher-Problematik mit Michael May, dem Stellvertretenden Direktor des Londoner „Institute of Jewish Affairs“.
taz: War die oberflächliche Überprüfung der Flüchtlinge, die nach dem Kriege nach Großbritannien kamen, wie einige behaupten, den damaligen chaotischen Zuständen geschuldet, oder läßt sich hier, wie die „War Crimes Group“ behauptet, von einer „bewußten Nachlässigkeit“ bei der Suche nach Nazi -Kriegsverbrechern sprechen?
Michael May: Ich glaube, wir wissen heute über die Zeit direkt nach dem Krieg genug, um belegen zu können, daß damals kein ernsthafter Versuch unternommen wurde, die Verfolgung von Kriegsverbrechern weiter zu betreiben. Das gilt für die USA, für Großbritannien und allgemein für die westlichen Alliierten. Der heraufziehende Kalte Krieg hat damals mit Sicherheit die Prioritäten der Politiker verändert, wobei der Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern nur noch eine geringere Bedeutung beigemessen wurde.
Wie kommt es, daß die Verfolgung von Kriegsverbrechern in Großbritannien und anderswo gerade jetzt wieder zum Thema wird?
Ich denke, es gibt sowohl bei den Opfern als auch bei den freundlichen Organisationen - die nicht notwendigerweise alle jüdische sein müssen - das Bewußtsein, daß dies aus biologischen Gründen die letzte Möglichkeit darstellt.
Dabei haben die verschiedenen Jahrestage einen großen Einfluß auf das kulturelle und politische Leben in Europa gehabt. Man erinnert sich unserer Geschichte mit Hilfe von Jahrestagen. Dies ist auf der einen Seite ein beliebiger Prozeß, auf der anderen Seite eine Konvention: 50 Jahre nach Hitlers Machtergreifung, D-Day, Kriegsende und jetzt die „Kristallnacht“ geben den Rahmen ab, innerhalb dessen man sich jetzt auch der anderen Aspekte des Zweiten Weltkriegs erinnert, der kriminellen Aktivitäten beispielsweise. Eine sehr wichtige Rolle haben hier die US-amerikanischen jüdischen Organisationen gespielt, die diese letzte Möglichkeit genutzt haben, sich des Themas anzunehmen.
Aber haben diese Organisationen nicht schon seit Jahren versucht, den westlichen Umgang mit Kriegsverbrechern zur Sprache zu bringen - nur daß sie bisher immer auf völlig uninteressierte Regierungen getroffen sind?
Dies ist interessant. Es gab bis vor wenigen Jahren nur kleine Organistionen und Einzelpersonen wie die Klarsfelds, die sich des Themas oft sehr amateurhaft angenommen haben. Weder der Staat Israel noch die großen Organisation in den USA haben sich bis vor kurzem wirklich mit dem Thema der Nazi-Kriegsverbrecher befaßt.
Die „Office of Special Investigation“ im US -Justizministerium ist ja auch erst 1978 geschaffen worden. Erst nachdem das Simon-Wiesenthal-Institut vor zwei Jahren eine konkrete Namensliste an verschiedene Regierungen verschickt hat, sind Australien, Kanada, die USA und Großbritannien von einer letzten Welle im Umgang mit der Kriegsverbrecher-Problematik ergriffen worden, die dann auch noch mit der Waldheim-Affäre zusammenfiel.
Dennoch scheint die Regierung Thatcher auf eine Verzögerungstaktik zu setzen, bis auch die letzten Nazis gestorben sind.
Ich bedaure sehr, daß sich die britische Regierung des Themas im Gegensatz zu den Regierungen in den USA oder Australien recht halbherzig angenommen hat. Für die ist das ganze neu, lästig, peinlich, kompliziert und offenbar einfach nicht wichtig genug.
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