Bonn verheimlicht Atom-Störfall

■ US-Fachblatt 'nucleonics week‘: Störfall im AKW BiblisA verheimlicht Kernschmelze war möglich / Bundesdeutsche AKWs klammheimlich nachgerüstet

Washington/Berlin (taz) - Ein westdeutscher Atommeiler ist vor fast genau einem Jahr knapp an einem folgenschweren Crash vorbeigeschrammt: Mitte Dezember 1987 löste ein Ventil -Schaden im hessischen Atomreaktor Biblis A einen bis heute geheimgehaltenen Störfall aus, der im schlimmsten Falle zu einer Kernschmelze hätte führen können. Dies enthüllt der US -Branchendienst 'nucleonics week‘ in seiner am Wochenende in Washington erschienenen Ausgabe. Betreiber und politisch Verantwortliche wollten offenbar das makabre Jubiläum unter Ausschluß der Öffentlichkeit verstreichen lassen: Zwar wurde die Panne ins Informations-System der Nuclear Energy Commission (NEA) in Paris eingegeben, von den westdeutschen Absendern aber als „Betriebsgeheimnis“ klassifiziert. Politisch verantwortlich: Bundesrestrisiko-Minister Töpfer und sein hessischer Amtskollege Weimar. Die US-Behörden sind stinksauer, weil sie erst vor wenigen Wochen von dem Vorfall Kenntnis erhielten. Im Gegensatz zu ihren bundesdeutschen Kollegen stufen US-Experten das Biblis-live-Szenario als „top level„-Ereignis ein.

Der Störfall in dem 1.200-Megawatt-Druckwasserreaktor ereignete sich, als die Ingenieure nach einer unplanmäßigen viertägigen Abschaltung den Reaktor wieder anfahren wollten. Dabei entdeckte ein Operateur, daß eines von zwei hintereinander geschalteten Absperr-Ventilen in der Verbindungsröhre zwischen dem Primärkreislauf und dem Notkühlsystem nicht geschlossen war. Während der Abschaltung müssen beide Ventile offen, beim Anfahren des Reaktors aber wieder geschlossen sein, um den Primärkreislauf vom Notkühlsystem zu trennen. Vergeblich versuchte der Operateur, das defekte Ventil durch Manipulation der Druckverhältnisse in der Leitung zu schließen. Dazu öffnete er mit einem Motor das zweite Ventil, wodurch während 2 bis 5 Sekunden eine Verbindung zwischen dem Primärkreislauf und den Systemen außerhalb des Containments bestand. Mit anderen Worten: Das Containment hatte für Sekunden ein Leck. Durch das Leck kam es zu einer Freisetzung von radioaktivem Dampf, weil die äußeren Rohrsysteme für die auftretenden Drücke nicht ausgelegt sind. Nach dem gescheiterten Manöver mußte das Bedienungspersonal den Reaktor wieder herunterfahren. Zwar verweigern die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) genaue Angaben über die Menge der entwichenen Radioaktivität, beteuern aber, die Werte lägen „weiter unter der Grenze“, die eine offizielle Meldung erfordert hätte.

Brisant ist das Szenario einer solchen Ventil-Panne, weil sie eine Verbindungsröhre der sogenannten „interfacing systems“ betraf, also der äußeren Flüssigkeitssysteme eines Reaktors, die den radioaktiven Primärkreislauf mit den außerhalb des Containments liegenden Einrichtungen wie Pumpen, Notkühlsystem, Reservetanks usw. verbinden. Risse, Brüche - oder defekte Ventile - in diesem Röhrensystem kommen also einem Leck im Containment gleich. Das Containment ist das eherne Fundament der Sicherheitsphilosophie bundesdeutscher Atomiker. Im Falle BiblisA kam hinzu, daß es sich bei der Röhre ausgerechnet um eine Leitung des Notkühlsystems handelte. Kommt es innerhalb des Containments zu einem Kühlmittelverlust, so ein Experte in 'nucleonics week‘, kann das Wasser dort gesammelt und wieder in den Kühlkreislauf gepumpt werden. Liegt das Leck aber außerhalb des Containments wie bei dem nun bekanntgewordenen Biblis-Störfall, kann das zu einem „loss-of-cooling accident - loca“ (Kühlmittelverlust-Unfall) führen. Wäre der Biblis -Reaktor weiter hochgefahren worden und wäre - bei steigendem Druck im Innern - durch das lecke Ventil Kühlwasser nach außen gedrückt worden, hätte nicht - wie vorgesehen - Ersatzkühlmittel durch die gleiche Leitung nach innen fließen können. Ein unaufhaltsamer Kühlmittelverlust aber kann letzten Endes zur Katastrophe führen: der Kernschmelze.

Der Störfall in Biblis A wurde seinerzeit sofort von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) analysiert, also jener Experten-Combo, die unter Federführung ihres Chefs Prof. Birkhofer im Frühjahr 1986 die Folgen der Tschernobyl -Katastrophe eifrigst runtergerechnet hatte. Aufgrund des Biblis-Störfalls erstellte die GRS innerhalb weniger Wochen eine Studie für alle westdeutschen Atomstromfabriken. Sie kam zu dem Schluß, daß ein ähnliches Dampf-Leck in Verbindung mit bestimmten Fehlern grundsätzlich in jedem Druckwasserreaktor einen „loca“ verursachen kann. Betreiber -Vertreter stufen dies jedoch berufsmäßig als „sehr unwahrscheinlich“ ein. Der Störfall in Biblis A erfülle „auf keinen Fall“ die Voraussetzungen für eine Unfallabfolge, die zu einem „loca“ führen könne. Einräumen mußte der von 'nucleonics week‘ zitierte Manager, daß „das Ereignis in Biblis der Anlaß war, ein Szenario zu entwickeln, das wir bisher nicht für möglich hielten.“ Immerhin führte die Studie zu einer klammheimlichen Nachrüstung in allen westdeutschen Leichtwasserreaktoren. So wurde ein verbesserter Mess- und Kontroll-Mechanismus für das betreffende Ventil eingebaut und in den Betriebshandbüchern die Anfahr-Prozedur überarbeitet. „Wir haben eine generelle Schwachstelle in unseren Betriebsvorschriften und im Reaktor -Schutzsystem gefunden“, erklärte ein Offizieller, „und das Problem getilgt.“

Dies alles geschah still und leise hinter dem Rücken der Öffentlichkeit. Auf der Tagesordnung einer Konferenz der US -amerikanischen Atomkontrollbehörde Nuclear Regulatory Commission (NRC) Ende November hieß es lediglich: „Ausländischer Reaktor - Verlust von Reaktorkühlmittel außerhalb des Containments - geheime Information.“ Offiziell gibt sich NRC-Direktor Thomas Murley diplomatisch und findet an den Informationen „nichts Alarmierendes“. Demgegenüber erklärten NRC-Experten, die keinen Wert auf Namensnennung legen, dem Recherche-Team von 'nucleonics week‘, daß ein solcher Vorfall in den USA zweifellos als „top level event“ eingestuft worden wäre. „Wäre das in einer US-Anlage passiert“, so ein NRC-Mann, „wäre zweifellos innerhalb weniger Stunden ein Sonder-Inspektions-Team dort gewesen“, und die Anlage würde „für eine lange Zeit“ stilliegen.

Sauer sind die NRC-Experten auf die deutschen Behörden, weil diese ihnen Angaben über den Störfall, fast ein Jahr lang vorenthielten und damit eine Auswertung durch US -Experten verhinderten.

thomas scheuer