: Die Wende
Das Aids-Urteil von Kempten ■ K O M M E N T A R
Gibt es einen neuen Trend zurück zur Rest-Vernunft? In Sachen Aids scheint tatsächlich eine Wende stattzufinden. Die Wahrnehmung dieser Krankheit, die im allgemeinen medialen Gewitter mit seinen Untergangssehnsüchten um Dimensionen aus dem Ruder gelaufen war, ist realistischer geworden. Schon sorgen sich diejenigen, die bisher vor allem gegen die Hardliner und Reiter der Apokalypse argumentierten, daß der neue Realismus als Entwarnung mißverstanden werden könnte, Kondome und Safer Sex wieder vergessen würden.
Ins Bild der mobilisierten Vernunft paßt auch der Urteilsspruch aus Kempten. Ein Freispruch ohne Wenn und Aber. Schon die Tatsache, daß es zu solch einem Prozeß kommen konnte, hatte zuvor manchen erschreckt. Es ist gut, daß jetzt gerade ein bayerischer Richter klargemacht hat, daß es noch ein Grundrecht auf Selbstbestimmung gibt und daß zum Sex (meistens) zwei gehören, die beide Verantwortung tragen. Die Entscheidung, trotz einer HIV-Infektion kein Kondom zu benutzen, ist nicht nur dumm, sondern lebensgefährlich, aber sie ist dennoch kein Fall für Staatsanwalt und Richter. Auch im Zeitalter von Aids müssen zwei erwachsene Menschen das Recht behalten, über die Form ihrer Sexualität frei zu bestimmen. Das Risiko kennen sie, zumindest dafür hat das Trommelfeuer der Medien gesorgt.
Der Kemptener Prozeß hat erneut gezeigt, daß die juristischen Raster bei Aids nicht greifen. Wer will bei Liebenden von „Vorsatz“ und „versuchter Körperverletzung“ reden? Absurd. Das Verhalten des Staatsanwaltes, der die „sexuelle Verfallenheit“ des Mädchens herausstellte und eine getrübte Erkenntnisfähigkeit wegen „nicht beherrschter Lustfähigkeit“, gibt Anlaß, die 'Titanic‘ zu zitieren: „Die schärfsten Kritiker der Elche / sind bekanntlich selber welche.“
Manfred Kriener
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