piwik no script img

Ausweisung als Todesdrohung

Im letzten Moment wurde die Ausweisung eines aidskranken Tunesiers aus Frankreich verhindert / In seinem Heimatland fehlt es an geeigneter medizinischer Versorgung  ■  Aus Paris Georg Blume

Abdelmajid Slama, 32 Jahre, aidskrank, darf in Frankreich sterben. Nur knapp entkam der Tunesier einem am Dienstag gesprochenen Urteil des Lyoner Revisionsgerichtshofes, das ihn nach drei Jahren Haft in Frankreich zur Ausweisung in sein Heimatland freigab. Erst in letzter Minute zog gestern das Pariser Innenministerium den Ausweisungsbescheid für Slama zurück - aus „humanitären Gründen“.

Der Aids-Fall Slama hatte die Lyoner Richter in dieser Woche vor ein bisher ungelöstes Rechtsproblem gestellt: Ist ein Aidskranker ausweisbar? „Nein“, antwortet der Lyoner Rechtsanwalt Jean-Loup Cacheux, der am Dienstag für Slama plädierte. „Die Ausweisung wäre für meinen Mandanten einer Todesdrohung gleichgekommen, da in Tunesien die geeigneten medizinischen Mittel fehlen, die allein sein Überleben heute sichern können.“ In seiner Argumentation vor Gericht stützte sich Cacheux dabei auf den im französischen Recht bis heute umstrittenen Begriff des „Notzustandes“, in dem sich Slama nach Ansicht des Rechtsanwalts befindet. Dieser Zustand erfordere eine außergewöhnliche Rechtsprechung. Slama sei zudem für seine Krankheit nicht selbst verantwortlich. Cacheux berief sich weiterhin auf ein Gutachten der tunesischen Botschaft, das die unzureichende medizinische Versorgung der Aidskranken in Tunesien attestierte, und verwies auf die im EG-Recht festgeschriebene Klausel, daß eine Ausweisung aufgrund „besonderer Umstände für die betreffende Person, ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes“ abgelehnt werden könne.

Doch die Überlegungen Cacheuxs überzeugten die Lyoner Revisionsrichter nicht. Sie scheuten davor zurück, einen juristischen Präzedenzfall zu schaffen, auf den sich dann kranke Ausländer aus der Dritten Welt, zumal die Aidskranken unter ihnen, berufen könnten, um ihren „Notzustand“ im Hinblick auf die medizinische Versorgung im Heimatland vor ihrer Ausweisung einzuklagen. „Nichts hindert Abdelmajid Slama daran, nach seiner Ausweisung nach Tunesien sich anderorts medizinisch versorgen zu lassen“, begründeten die Richter ihren Urteilsspruch.

Slama verdankt seine vielleicht letzte Rettung vor dem kommenden Tod dem sozialistischen Innenminister Pierre Joxe. Der bekam offenbar in letzter Minute ein schlechtes Gewissen und ließ von einer Ausweisung ausnahmsweise ab. Der Fall Slama aber zeigt nicht nur für Frankreich: Weder Gesetzgeber noch Justiz können bisher die umfassenden juristischen Folgen des Notzustands Aids absehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen