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Schmücker-Urteil kassiert

Der längste Prozeß in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte muß zum vierten Mal aufgerollt werden / BGH rügt Beweismittel-Unterschlagung staatlicher Stellen  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Der längste Prozeß in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, der sogenannte Schmücker-Prozeß, muß zum vierten Mal aufgerollt werden. Der Bundesgerichtshof hat am Donnerstag zum dritten Mal ein Urteil des Berliner Landgerichts wegen zahlreicher Verfahrensfehler aufgehoben. Das Landgericht hatte zuletzt im Juli 1986 im dritten Verfahrensdurchgang die Hauptangeklagte des Verfahrens, Ilse Schwipper, zu lebenslanger Haft verurteilt und gegen vier weitere Mitangeklagte jeweils vierjährige Gefängnisstrafen ausgesprochen. Das Gericht hatte sie für schuldig befunden, vor fünfzehn Jahren den Studenten und Verfassungsschutzinformanten Ulrich Schmücker erschossen zu haben (vgl. Kasten auf Seite 2). Jetzt entschied der BGH einstimmig: Dieses „Urteil hat keinen Bestand“.

Während der insgesamt dreizehnjährigen Dauer des Prozesses und der Rekordanzahl von 537 Verhandlungstagen wurde immer undurchsichtiger, welche Rolle der Verfassungsschutz im Mordfall Schmücker gespielt hat. Zahlreiche Beamte des Verfassungsschutzes und des BKA hatten von ihren Vorgesetzten für eine Zeugenaussage keine Gegenehmigung bekommen. Wichtige Akten wurden erst nach gerichtlichen Klagen bruchstückhaft herausgeben.

Genau das wird jetzt auch von den Richtern des BGH gerügt. Staatliche Stellen hätten die Beweisaufnahme belastet und behindert, indem sie für die Unerreichbarkeit von Zeugen und Beweismiteln gesorgt hätten. Das allein sei jedoch noch kein Revisionsgrund. Versäumt aufzuklären habe das Landgericht aber, auf welche Weise das Geständnis des Hauptbelastungszeugen des Verfahrens, Jürgen Bodeux, zustande gekommen sei. So habe das Gericht „rechtsfehlerhaft“ die Vernehmung eines ehemaligen Beamten des Landeskriminalamts NRW verweigert, der dazu hätte Stellung nehmen können. Der Beamte hätte möglicherweise den Verdacht der Verteidigung untermauern können, daß Bodeux von staatlichen Behörden zur Aussage gegen seine früheren politischen Weggefährten veranlaßt wurde. Dafür habe man ihm Straffreiheit für einen Raubmord an einem Porzer Geldboten zugesichert, dessen er verdächtigt war.

Weitere rechtliche Bedenken erhebt der BGH dagegen, daß das Landgericht den inzwischen mit falscher Identität im Ausland lebenden Verfassungsschutzagenten Volker Weingraber „und etwaige Hintermänner“ nicht als Tatbeteiligte in Betracht gezogen hat. Weingraber, so war erst nach dem letzten Urteilsspruch über Presseberichte bekannt geworden, soll in der Mordnacht von dem Schützen die Tatwaffe entgegengenommen und Stunden später dem Verfassungsschützer Grünhagen übergeben haben. Im Zuge des Berliner Verfassungsschutzsskandals war herausgekommen, daß Weingraber noch kürzlich erhebliche Summen aus dem Etat des Geheimdienstes bezogen hat. Als Verletzung der Strafprozeßordnung rügt der BGH auch, daß das Urteil dieses jahrelangen Prozesses am 3. Juli 86 völlig überraschend in Abwesenheit der Angeklagten gefällt wurde, ohne daß sie und ihre Verteidiger Gelegenheit zu einem letzten Wort hatten. Fortsetzung auf Seite 2

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Die Verteidiger im Schmücker-Prozeß werteten die Aufhebung des Urteils gestern als „Erfolg und Genugtuung“. Tatsächlich ist es jedoch nur ein Teilerfolg, denn von der juristischen Möglichkeit, das unrümliche Kapitel bundesdeutscher Rechtsgeschichte durch Einstellung zu beenden, machte der BGH keinen Gebrauch. „Angesichts der Schwere des Tatvorwurfs“, so die Bundesrichter, komme dies trotz der ungewöhnlich langen Verfahrensdauer und der zahlreichen Prozeßhindernisse nicht in Betracht. Voraussichtlich im Herbst wird sich eine andere Kammer des Berliner Landgerichts zum vierten Mal mit dem Prozeß befassen. Dabei muß das gesamte Verfahren neu aufgerollt werden und sämtliche, teilweise in den USA und Australien lebende Zeugen erneut aussagen. Zu den bisher 10 Mio. Mark Prozeßkosten dürfte eine siebenstellige Summe hinzukommen.

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