: Der Mohr kann jetzt gehen
Südkorea: Ein halbes Jahr nach den olympischen Spielen wird der wiedereingekehrte Alltag von neuen wirtschaftlichen Problemen eingeholt ■ Aus Seoul August Pfluger
Am 31. Oktober 1988 mußte Chung chong-ho seinen Besen wieder abgeben. Zusammen mit Hunderten von Freiwilligen war der 23jährige dem patriotischen Aufruf von Seouls Stadtpräsident Yong Nae Kim gefolgt, „der Welt zu zeigen, wozu der Industriestaat Südkorea fähig ist“. Als Angestellter der städtischen Behörden hatte er Gehsteige geschrubbt, Blumenbeete gepflegt und Abfalleimer geleert. Jetzt, nachdem die olympische Flamme verglimmt ist, scheint auch das innere Feuer von Chung für die laut Kim „noble Pflicht für unseren Staat“ erlöscht. Sein Arbeitsverhältnis wurde aufgelöst, und als Arbeitsloser ist er wieder zurückgekehrt in ein privat unterstütztes „Wohlfahrtszentrum“ am Rande der Stadt. Die City des fernöstlichen Industrie-Preussens ist längst wieder eingeholt worden von der Realität des Alltags: Entfernt sind die ungezählten Blumentöpfe und verschwunden die feierlich von gläsernen Türmen wehenden Banner. Alltag in Seoul, das bedeutet auch die Lockerung zahlloser Gebote, die der Bevölkerung namens der olympischen Spiele auferlegt worden waren: Jetzt darf in Seoul wieder auf den Boden gespuckt werden, und legal ist der Verzehr von Hundefleisch und Katzenragout. Derweilen schwellen die Slums um die Hauptstadt weiter an. Viele Menschen sind in die Hauptstadt gezogen, um vom olympischen Kuchen ein paar Krümel abzuzweigen - auf Zeit.
„Es ist uns gelungen, der Welt ein positives Bild von Seoul zu übermitteln“, blickt Park Won Am vom Koreanischen Institut für Entwicklung zurück. Doch Sieger der 3,1 Mrd. Dollar teuren, von Skandalen überschatteten Spiele ist nicht der oft und gern als völkerverbindend dargestellte Weltsport und schon gar nicht das südkoreanische Volk. Der hauptsächliche Nutznießer des Festes der fünf Ringe heißt Roh Dae Woh. Dem Präsidenten gelang es mit Hilfe einer riesigen Propagandamaschinerie und beschützt von Militär und Tausenden außerordentlichen Sicherheitskräften, weite Teile der Mittel- und Oberschicht für die olympische Idee zu gewinnen und schließlich auch noch die gemäßigte Opposition vor seinen Karren zu spannen. Fast mundtot gemacht wurde die Studentenschaft.
Wurden die olympischen Spiele in den ländlichen Regionen nur am Rande und via Rundfunk verfolgt, so begegneten die in sogenannten Freihandelszonen beschäftigten Arbeiter dem sportlichen Großanlaß gleichgültig. Eine dieser Freihandelszonen heißt Iri und liegt 260 km südlich von Seoul. Hier liegt die Dependence des bundesdeutschen Adler -Unternehmen „Flair-Fashion“, die vor einiger Zeit von sich Reden machte, als die dort beschäftigten Frauen die Ablösung von leitenden Angestellten durch Streik erzwangen, von denen sie sich sexuell belästigt fühlten. Über die Erfüllung der zweiten Forderung ist man inzwischen geteilter Meinung. Die erzwungenen Lohnerhöhungen um 15% über zwei Jahre könnten sich nämlich schon bald als Pyrrhussieg entpuppen. Je nach Stellung verdienen die Angestellten nun zwischen (umgerechnet) knapp 350 und 500 Mark pro Monat. Die angehobenen Löhne machen den Betrieb aber im internationalen Vergleich zunehmend unrentabel, und bevor noch die latent bestehenden Probleme bei Flair Fashin zum Ausbruch gekommen wären, gilt der Fall in koreanischen Gewerkschaftskreisen als exemplarisch. Verschärfend für die Konkurrenzlage im Land kommt noch die Aufwertung der Landeswährung Won hinzu, die nicht ohne Druck der USA vorgenommen wurde: Die Produkte Koreas werden auf dem Weltmarkt teuerer. Die Aufwertung hat sich negativ auf die Handelsbilanz des Landes ausgewirkt.
„Wir haben Angst vor Massenentlassungen“, sagt nun die Näherin Chu Sun-rae. Erste Anzeichen, daß es um die Firma nicht mehr so gut bestellt sein soll, sieht sie in einer partiellen Produktionsauslagerung in kleinere Betriebe der näheren Umgebung. Unterdurchschnittliche Lohnkosten und Arbeitsbedingungen sollen dank fehlender Kontrolle diesen Transfer zu einem vorerst noch lohnenden Geschäft machen und betrugen nach Angaben der Firma 1988 etwa 20 Prozent. Weiter angefacht wurde die Angst vor dem blauen Brief mit der angekündigten Neueröffnung eines weiteren Produktionsbetriebes in China, der noch Mitte dieses Jahres ans Adlersche Verteilernetz gehen soll. In der Phase steigender Lohnkosten und verstärkter Konkurrenz nachrückender Billiglohnländer schwächt sich der ehemals für zweistellige Zuwachsraten verantwortliche Wettbewerbsvorteil ab.
Während man in Seoul weiterhin auf einer Welle der Euphorie über anstehende wirtschaftliche Erfolge reitet, sieht die Belegschaft von Flair Fashion der Zukunft mit Mißtrauen entgegen. Ungemütlich ist die Lage allemal. Mit stumpfen Waffen - Streiks sind für koreanische Arbeitnehmer nachweislich die einzigen Mittel, sich in Chefetagen Gehör zu verschaffen - geraten sie nun zwischen Stuhl und Bank. Unverholen angedrohte Kündigungen einerseits und Löhne, die nach wie vor unter dem staatlich fixierten Minimum für Alleinstehende liegen, andererseits, das ist die Realität der mittlerweile um 500 auf 1.250 Arbeitskräfte geschrumpften Belegschaft. Massenkündigungen hätten für die Region Iri gravierende Konsequenzen: Bedingt durch die sektorale Unausgewogenheit zwischen Landwirtschaft und Industrie stünden die vorab aus bäuerlichen verhältnissen stammenden Frauen buchstäblich auf der Straße. Helfen könnte ihnen dann auch die Worte von Flair-Fashion-Geschäftsführer Yoons nicht mehr: „Wer hart arbeitet, wird nicht entlassen.“
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