: Ein Blüm-Denkmal von den Privatkassen
Norbert Blüm sagte es diesmal ganz unverblümt: „Die Wehleidigkeit der Deutschen, die wegen zehn Mark den Zusammenbruch des Sozialstaates befürchten, geht mir langsam auf den Keks!“
Mit seinem verbalen Befreiungsschlag hat der Schöpfer der Gesundheitsreform den Kern des breiten Unmuts gegen sein Paragraphenwerk getroffen. Denn wenn es nur um ein paar Mark mehr oder weniger aus den Taschen der Patienten ginge - die hochschwappenden Emotionen wären kaum verständlich. Doch breite Bevölkerungskreise haben offenbar intuitiv begriffen, daß es um mehr geht: um eine Aufweichung der sozialen Absicherung, um die schrittweise „Amerikanisierung des Gesundheitswesens“, wo sich nur noch der eine Krankheit leisten kann, der sie auch bezahlen kann.
Am Beispiel der Krankenkassen läßt sich diese Entwicklung nachzeichnen, die langfristig fatale Folgen haben könnte. Schon Monate vor Inkraftreten der Gesundheitsreform sahen die privaten Krankenversicherer ihre Stunde gekommen. Die Blüm-Reform hat ihnen einen erweiterten Kundenkreis von Pflichtversicherten verschafft: gutverdienende Arbeiter, nun nicht mehr über die Eltern mitversicherte Studenten und Kinder, für die eine private Krankenversicherung jetzt häufig billiger ist als der Krankenschein von der AOK. Auf „diese Super-Verkaufschance“ dank Gesundheitsreform weisen die Rundschreiben der privaten Versicherer an ihre Agenten schon seit Monaten hin und preisen den „erheblich gesteigerten Antragseingang“.
Außerdem sichert die Gesundheitsreform den privaten Versicherern ein gutes Geschäft mit Zusatzversicherungen für all die Leistungen, die nicht mehr voll von den Kassen übernommen werden: Brillen, Zahnersatz, Hörgeräte, ambulante Fahrtkosten. „Die privaten Krankenversicherer“, meint ein Berliner Versicherungskaufmann, „werden dem Blüm die Füße küssen, ein Denkmal müßten sie ihm setzen!“
Daß private Unternehmen mit günstigen Angeboten in die Lücke springen - dagegen wäre im Prinzip nichts einzuwenden, wenn dieser Trend nicht zum allmählichen Bankrott der gesetzlichen Krankenkassen führen würde: Die privaten Versicherer nämlich können sich im Gegensatz etwa zur AOK ihren Kundenstamm aussuchen. Alte Leute, Krankheitsanfällige, medizinische Risikogruppen oder chronisch Kranke - Hauptkostenfaktor für die Kassen brauchen sie nicht aufzunehmen.
Die gesetzlichen Krankenversicherungen bleiben daher auf einem Berg von kostenintensiven und wenig verdienenden Versicherten sitzen. Sie müssen zwangsläufig ihre Beiträge weiter erhöhen, während die besser betuchten und gesunden Mitglieder zu den billigeren „privaten“ und den aufstrebenden Betriebskrankenkassen abwandern. „Das jedoch“, prophezeit ein Versicherungsfachmann, „ist das allmähliche Ende der Solidargemeinschaft.“
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