: Bevölkerungspolitik mit dem Messer
Mit Gewalt arbeitet China an der Sinisierung Tibets / Beobachter berichten von Zwangssterilisationen und -abtreibungen und Kindestötung / Seit 1983 siedeln massiv Chinesen auf dem Dach der Welt / Tibeter befürchten, daß sie bald zur Minderheit im eigenen Land werden / Im tibetischen Exil ertönt der Ruf nach Waffen ■ Von Jürgen Kremb
US-Bürger Keith James Pitts ist das, was gemeinhin als gestandener Mann bezeichnet wird. Seit mehreren Jahren leitet er das Büro des Kongreßabgeordneten Charlie Rose. Er ist Berater für zahlreiche Abgeordnete, wenn es um Menschenrechtsfragen geht. Ihm sind schon genug Scheußlichkeiten, begangen von den Herrschenden dieser Welt, zu Ohren gekommen. So schnell sollte ihn nichts mehr schocken. Doch als Pitts am vergangenen Freitag bei der Tibet-Anhörung im Bundestag vor seinem Mikrofon aufstand und das Wort ergreifen wollte, kam nur ein Schluchzen heraus. Ihm ging es wie vielen der mehr als 200 Zuhörer und 40 Fachreferenten. Unter ihnen international anerkannte Wissenschaftler, Vertreter von Menschenrechtsgruppen (amnesty international und Asia Watch) sowie tibetische Exilpolitiker.
Denn Pitts Rede war der Lebensbericht der Tibeterin Adhi vorausgegangen. 1958 war sie von chinesischen Soldaten in der einstigen tibetischen Provinz Kham (heute chinesische Provinz Sichuan) verhaftet und bezichtigt worden, einen Volksaufstand angeleitet zu haben. Acht Jahre zuvor, 1950, war die Volksbefreiungsarmee Mao Zedongs in Tibet einmarschiert, um das Land, das sich seit 1913 unabhängig erklärt hatte, „friedlich zu befreien“. Nachdem erst in Ost -Tibet, dann am 10.März 1959 in der Hauptstadt Lhasa ein Volksaufstand ausbrach, flüchtete das geistige Oberhaupt der Tibeter, der Dalai Lama, nach Indien.
„Bei der Festnahme trampelten chinesische Soldaten auf meinen beiden Kindern rum“, sagt Frau Adhi. Damals war ihr Mädchen drei, der Junge vier Jahre alt. Die Tibeterin sah ihre Kinder nie mehr wieder. 26 Jahre verbrachte sie in chinesischen Gefängnissen, lange Zeit in Einzelhaft. Von den hundert Frauen, die mit ihr eingekerkert wurden, überlebten nur die vier, die zum Schweinehüten abgestellt waren. „Wir stellten fest, daß alles, was Schweine fressen können, auch für uns eßbar war“, übersetzt der tibetische Dolmetscher. Die anderen Gefangenen wurden regelrecht zu Tode gehungert. Doch die vier Frauen mußten ihre Privilegien teuer bezahlen. Fast täglich wurden sie von ihren chinesischen Wärtern sexuell mißbraucht.
1,2 Millionen der etwa sechs Millionen Tibeter, die heute in den chinesischen Provinzen Gansu, Sichuan, Yunann, Qinghai und der „Autonomen Region Tibet“ leben, sollen nach den Aussagen von Menschenrechtsgruppen seit den 50er Jahren durch Hunger, Haft, Exekution und Folter ums Leben gekommen sein.
Ein US-amerikanischer Arzt, Blake Kerr, der in den letzten drei Jahren mehrmals Tibet bereiste und auch Zeuge der gewalttätigen Demonstrationen wurde, berichtete in Bonn, daß die Gewalt gegen Tibeter nicht der Vergangenheit angehört. „Eine Frau erzählte mir, daß sie ein gesundes Kind gebar, doch dann setzte der chinesische Doktor eine Spritze an, und das Kind starb.“ Die Frau wurde anschließend zwangssterilisiert. Mehr als 400 dieser Fälle hat Kerr in den letzten Jahren in Tibet gesammelt. „Ich kann zwar noch nicht nachweisen, daß dies angeordnete staatliche Politik ist“, sagte er im Gespräch. „Doch das Ergebnis ist dasselbe: Die Tibeter sollen ausgerottet werden.“
Nach den Schilderungen Kerrs ziehen seit mehreren Jahren chinesische Abtreibungs- und Sterilisationsteams durch die Weiten des tibetischen Hochlands, das zweimal so groß wie Westeuropa ist. Wo sie ihre Zelte aufschlagen, werden die Frauen der Umgebung „unter Androhung von schweren Konsequenzen“ zur Abtreibung und anschließenden Sterilisation aufgefordert. „Mir berichtete eine 18jährige kinderlose Tibeterin, daß sie zur Sterilisation gezwungen worden ist.“ Mönche hätten ihm berichtet, wie sich hinter einem solchen Abtreibungszelt die Föten stapelten. „Die Frauen bekommen nach dem Eingriff keine medizinische Versorgung“, berichtet der Mediziner. „Ich muß davon ausgehen, daß eine große Zahl nach dem Eingriff an den Folgen verstirbt.“ Der Arzt, dessen Bericht sich mit den Aussagen von Menschenrechtsgruppen deckt, berichtet von eimem tibetischen Kreißsaal, in dem acht Frauen ein Kind zur Welt bringen wollten: eine Chinesin und sieben Tibeterinnen. Doch nur ein chinesisches Kind kam zur Welt.
Mit Schlagstöcken
totgeprügelt
Auch zur Menschenrechtssituation berichtete Kerr, daß in tibetischen Gefängnissen und während der Demonstrationen der letzten beiden Jahre Inhaftierte mit Schlagstöcken, an denen Nägel befestigt sind, regelrecht zu Tode geprügelt wurden. Die holländische Krankenschwester Christa Meindersma, die bei den Unruhen vom Dezember 1988 angeschossen wurde, sagte, daß chinesische Ärzte sich vielfach weigerten, verletzte tibetische Demonstranten zu behandeln. Mit Garben aus Maschinengewehren, die auf Dächern der Hauptsadt Lhasas aufgestellt waren, erzählt eine Augenzeugin von den Unruhen im März 1989, sei in die Menge geschossen worden. „Wenn die Chinesen sagen, daß Tibet ein Teil Chinas ist, warum machen sie das mit ihren Landsleuten?“
Erwin Wickert, der ehemalige bundesdeutsche Botschafter in China (1970 - 1980), riet zur Zurückhaltung. Er befand, die Menschenrechtsverletzungen in Tibet seien Beiwerk der Kulturrevolution gewesen, „gehörten aber heute der Vergangenheit an. Seitdem übt China tätige Reue.“ Die Anwesenden seien seiner Ansicht nach „Mitglieder der gut geölten Propagandamaschine des Dalai Lama.“ Er warnte davor, „die Bundesrepublik zur Speerspitze der Loslösung Tibets von China zu machen“. Damit gab er genau die Position der chinesischen Regierung wider.
Die Vertreter des tibetischen Jugendkongresses indes wollen sich mit solchen Erörterungen nicht mehr aufhalten. „Wenn wir jemanden finden, der uns Stingerraketen gibt, schlagen wir los“, sagt der Verbandsvorsitzende Tashi Mamghal. Da China seit 1983 eine massive Sinisierungspolitik mit der Aussiedlung von chinesischen Siedlern auf das Dach der Welt betreibe, bestehe die Gefahr, daß sein Volk bald nur noch eine kleine Minderheit im eigenen Lande sei. „Wir wollen den Terror nicht ins Ausland tragen, doch endlich die Waffen gegen China erheben.“
Wie das auch aussehen könnte, sagt eine Vertreterin des Zusammenschlusses: „Chinesiche Häuser anzünden, Sabotage.“ Die jüngsten Demonstrationen hätten zumindest bewirkt, daß gegenwärtig chinesische Siedler „Angst haben, nach Tibet zu kommen.“
Zu Recht wertete der Außenminister im Exilkabinett des Dalai Lama, Gyaltsen Gyari, dies als „Selbstmord“. Den gewaltlosen Weg, wie er vom geistigen Oberhaupt der Tibeter propagiert wird, hält er für die einzige Lösung des Konfliktes. Gyari leitete 1982 und 1984 die Verhandlungen mit der chinesischen Regierung. „Ich weiß, daß einige von ihnen mich deswegen als Verräter bezeichnen“, sagte er zu seinen Landsleuten, „aber ich würde es wieder tun.“ Die Beteuerung, daß es ihm nicht leicht falle, ist sicher kein Lippenbekenntnis. „Meine halbe Familie wurde von den Chinesen ausgerottet“, sagt der Diplomat auf der Tibet -Anhörung und mußte einen kurzen Augenblick in seiner Rede innehalten.
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