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GLÜCK SPRITZT UND KLECKST

■ „Mit Georg Christoph Lichtenberg“ - Ein Buch und eine Ausstellung von Horst Janssen

DDer Tuschestrich dünnt aus und verendet in winzigen Häkchen. In jedem Schnörkel, bevor die Feder absetzt, steckt eine kleine Ahnung des Todes. Jeder Spritzer oder Klecks aber, ob zufällig gefunden auf den meist alten Papieren oder mit den Aquarellfarben mutwillig hineingewischt, birgt die Möglichkeit, Neues entstehen zu lassen: Täler, Flüsse, Ebenen, Aufwerfungen, Schatten. Felsen, Bäume, Schiffe, Kirchen, Gesichter und Gestalten wuchern hervor. Die Linie fließt, wird Fluß, Ader, Nerv, zuckt lebendig und verholzt, versteinert wieder, eingegraben in den borkigen Schichten des Bildes. Jede Zeichnung: ein Naturereignis.

Mit Horst Janssen scheint die Gattung des Zeichners den Ungetümen und Urviechern verwandt. Zeichnend verleibt er sich die Welt ein; er spuckt sie wieder aus, nun aber zum Protokoll seiner eigenen Befindlichkeit geworden, zur Notiz, die alle Bewegungen, Verschlingungen, Eruptionen seines Innern festhält. Die eigene Gesichtslandschaft ist vertraute und fremde Gegend, ihre weiten Ebenen werden zur endlosen Bühne. Der Zeichner, der fliegendreckgroße Gestalten wie von der Tarantel gestochen hüpfen lassen kann, taucht mit einem mikroskopisch scharfen Blick in die Tiefe der Poren, die sich anderen als glatte und uninteressante Oberfläche verschließen. Je weiter er sich nach innen schraubt, desto mehr durchbricht er die Wände des Hier und Jetzt. Er reist in altertümliche Gegenden, an Steilküsten, auf Segelschiffen, unter einsame Bäume, die versteinerten Wellen gleichen, zwischen mittelalterliche Häuser. Das zerfurchte Landschaftsprofil bezeugt die Sehnsucht nach anderen Zeiten, die für ihn nur Sekunden vom Jetzt, das in den Blättern notiert wird, entfernt liegt. Symbolträchtig wimmeln Gerippe, gekreuzigte, faustische Gecken, bucklige Männlein und Verwandte des Mephisto hindurch.

„So suchen wir Sinn in die Körperwelt zu bringen. Die Frage aber ist, ob alles für uns lesbar ist. Gewiß aber läßt sich durch vieles Probieren und Nachsinnen auch eine Bedeutung in etwas bringen, was nicht für uns oder gar nicht lesbar ist. So sucht man im Sand Gesichter, Landschaften und so weiter, die sicherlich nicht die Absicht dieser Lagen sind. (...) Überhaupt kann man nicht genug bedenken, daß wir immer uns beobachten, wenn wir die Natur und zumal unsere Ordnung beobachten.“ So beschrieb der Philosoph und Naturwissenschaftler Georg Christoph Lichtenberg das Bedürfnis des Menschen, alle Gestalt zu klassifizieren und zu interpretieren, um sie dem Verstand faßbar und der Erinnerung wiedererkennbar zu machen. In Lichtenberg hat Janssen sich wiederentdeckt. In ihm hält er seine Reise durch Zeit und die Imaginationen fremder Köpfe an. Janssen streut - über Jahre - Lichtenbergs Satzfetzen in seine Zeichnungen, schreibt seitenweise Lichtenberg-Texte ab, kritzelt sich in den Vergangenen hinein und gibt schließlich Janssen-Sprüche als Lichtenberg-Zitate aus. Die Blätter, oft auf Akten-, Kanzlei-, Packpapier oder Buchseiten des 18. und 19. Jahrhunderts aquarelliert, stellen eine materielle Brücke in die Vergangenheit her. Altes wird wieder benutzt, damit nichts verloren geht. Sie werden endlich auf Veranlassung des Verlegers Tete Böttger gesammelt, Aphorismen und Dokumente von Lichtenbergs England-Reise dazwischen gelegt. Ein Buch entsteht: Mit Georg Christoph Lichtenberg.

Erzähler sind sie beide - Lichtenberg und Janssen -, sobald die Spitze der Feder das Blatt berührt. Aber ihre Geschichten wechseln dauernd den Kurs wie das Segelschiff im Sturm, den Lichtenberg auf seiner Fahrt nach England durchsteht. Starke Niveauschwankungen in den Abstraktionshöhen. Zwischen Texten und Bildchen fliegt Sinn an wie Staub, blendet sich ein Schleier des Wiedererkennens ein und verblaßt wieder.

Lichtenberg stellte sich vor, daß man alle Notizen eines Menschen in Heften sammeln müsse - keine Sudelei und kein Fitzel darf ausgesondert werden -, um ein authentisches Dokument seiner Entwicklung zu erhalten. Von diesem Traum, daß jeder Einfall, jedes Glück, jeder Schmerz der Vergangenheit immer wieder zu Gegenwart werden kann, ist auch Janssen besessen. In wachsenden Bergen von Zeichnungen und Heften Erfahrung greifbar speichern, ständig die eigene Existenz nach hinten und vorne lesen, vermehren, steigern und überblicken: Dieses Bedürfnis nach Sicherung des eigenen Ichs treibt Janssen durch seine Protokolle von Ideen und Wahrnehmung. Neues und Fremdes wird da hineingewalkt, zwischen Heftdeckel geklemmt. Die Angst, sich in der Zerstreuung zu verlieren, die Lichtenberg in London befiel und die Janssen zum isolierten, abgeschotteten Arbeiten zwingt, wird niedergekämpft und in neue Erfahrung verwandelt. So landet zuletzt das sturmgepeitschte Schiff immer im Hafen des eigenen Ich. Janssen entwirft skurrile Gebilde, die an einen Totenschädel ebenso wie an Schiffe mit geblähten Segeln erinnern.

Gerüche zeichnen, Körpersensationen visualisieren: „24.4.87, ... Aber so geht's, wenn Leuten durchs Auge deutlich machen will, was eighentlich, um vollkommen gefaßt zu werden, gerochen werden muß. Lichtenberg - Claudia 'Leck‘ zur Verfügung.“ Über den apokryphen, zu Assoziationen animierenden Text zeichnet Janssen in dunklen, roten Farbtönen ein seltsames Gebilde, ähnlich dem Inneren einer Muschel, einer aufgeschnittenen Frucht, etwas Weiches, Bewegliches, Krabbelndes, Kribbelndes, nicht ganz Geheures, Wimmelndes, Fauliges, verdächtig Lebendiges. Daneben abgedruckt ein Text über die „reizende Ungewißheit“ des Verlangens des pubertierenden Körpers und: „Der Bauernknecht schielt nach dem Unterrockschlitz und sucht dort den Himmel, den du in den Augen suchst. Wer hat recht?“ Janssen sieht in Lichtenberg eins in dem anderen.

Ein anderes Bildchen findet er zum Schmerz, zum unter die Haut dringenden Schreck und der Trauer, die nicht mehr helfen kann. Ein Mäuschen, von der Mausefalle blutig geschlagen, die Schwanzspitze totenstarr, die Pfötchen schon fast zum Skelett eingetrocknet und doch noch im Versuch des Entkommens begriffen. Da weiß man beim drunternotierten Satz „...mir tut manchmal weh, was anderen leid tut. Lydia an Lichtenberg. 25.4.87“ genau um das Gefühl der plötzlich in die Augen schießenden Tränen.

Im Buch geht manches von den haptischen Qualitäten der rauhen oder gelackten Papiere und von den Aquarellfarben verloren; doch dafür kann man in Zeichnungen und Texten schmökern. Die Ausstellung in der Kommunalen Galerie läßt die Reize der Materialien spüren, die Verlockungen, in alte Flecken auf Papier mit wenigen Konturen Landschaft und Gesicht hineinzulegen. In der Galerie wird auch ein 1982 für den NDR produzierter Bericht von Thomas Ayck über Janssen gezeigt. Mit 1,6 Promille, nach eigenen Aussagen sein Mindestmaß, um leutselig und witzig zu werden, übernimmt das Ungetüm Janssen selbst die Regie und befiehlt der Kamera, groß auf seinem breiten Gesicht zu bleiben, wenn darüber die Tränen fließen: ein radikaler Exhibitionist, der zurückgezogen lebt und sich in die eigenen Körpermassen verkriecht. Auch das faszinierte ihn an Lichtenberg: dessen körperliches Stigma, seine ausbuckelnden Umrißlinien. Ihm selbst sei der Buckel nach innen gewachsen, behauptet Janssen schon auf der ersten Buchseite. Die körperliche Abweichung wird zur Last und zum Versprechen, zur geheimen Schatzkammer, zum Behältnis der Ablagerungen der Vergangenheit, zur Möglichkeit der ganz anderen Erfahrung, zum Versteck der noch zerknitternden Flügel für den Aufbruch in eine andere, glücklichere Welt. Zweimal zeichnet Janssen in Anlehnung an Lichtenbergs Biographie, die von Liebschaften des buckligen Professors mit Mädchen der unteren Stände berichtet, den Gnom, dem sich ein langes, flatterndes Wesen zuwendet, aus Blütenblättern und Bananenschalen montiert. „Der Drang zur Fortpflanzung pflanzte auch anderes. 14.2.86“ und „aus der Mätresse 'desjenigen‘ läßt sich viel auf diesen schließen. 14.2.86“ schreibt er hinein. So scheinen Erotik und Kunst hier beide aus dem einen Verlangen entsprungen, nicht auf die Erfahrung des einen Körpers beschränkt zu sein, seine Grenzen zu überwinden und zum Tausendfühler zu werden.

Katrin Bettina Müller

Horst Janssen: Lichtenberg-Zyklus. Kommunale Galerie Wilmersdorf, bis 11. Juni, mo-fr 10-18 Uhr, so 11-17 Uhr. Pfingstmontag geschlossen. Das Buch Mit Georg Christoph Lichtenberg ist im Aranka-Steidl Verlag, Göttingen, erschienen und kostet in der Ausstellung 40DM, im Buchhandel 56DM.

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