Parallelfahrten

■ Filmfestspiele Cannes, der fünfte Tag: Jim Jarmuschs „Mystery Train“ / Streifzüge durch ein Stück Amerika

„Please believe me“, sagt die kleine Japanerin, „I'm a not strange girl.“ Die Pressekonferenz amüsiert sich. Jim Jarmusch hat gerade erklärt, daß Youki Kudoh mit ihren Füßen nicht nur ein Zippo-Feuerzeug bedienen, sondern auch eine Nadel einfädeln und schreiben kann, allerdings nur Japanisch.

Das Zippo-Feuerzeug gehört in die amerikanische Mythologie wie Elvis Presley oder die Colaflasche: das Feuerzeug aus den Schwarze-Serie-Filmen und der Marlbororeklame. Es pielt eine Rolle in der ersten der drei Episoden vonMystery Man.

Mitzuko und Jun fahren Zug: Rockabillys auf ihrer ersten Amerikareise. Sie reden Japanisch mit Untertiteln, genauer: Mitzuko plappert, Jun blickt ins Leere. Nur wenn sie „Elvis“ sagt, antwortet er „Carl Perkins“. In Memphis steigen sie aus. Sie wollen das Sun-Studio sehen, in dem Elvis seine ersten Platten gemacht hat. „Der Bahnhof hat eine Atmosphäre“, sagt Mitzuko. „Der Bahnhof von Yokohama hat eine modernere Atmosphäre“, antwortet Jun. Ein Mann bittet um Feuer. „Oh, matches!“ ruft Mitzuko. Jun, immer ins Leere blickend, zückt das Zippo, schnippt mit dem Finger gegen den Verschluß und noch einmal gegen den Zündmechanismus, gibt Feuer, ruckt mit der Hand - Klappe zu -, wirft es hoch. Es landet in der Jackentasche. Jun ist Amerikaner.

Jarmusch weiß: Amerikaner gibt es nicht, auch wenn sie es längst vergessen haben. Amerika ist ein Land mit 200 Millionen Ausländern. „Die einzigen wirklichen Amerikaner“, sagt er in der Presskonferenz, „haben sie 'Indianer‘ genannt.“ Amerika ist Mythos. Das Bild, das es von sich gibt, ein Schein über einem Gewusel von Differenzen, Geschlechter- und Rassendifferenzen, Differenzen von Bild und Wirklichkeit.

Mitzuko und Jun gehen durch die Stadt auf der Suche nach dem Ort, wo Bild und Wirklichkeit zusammenstoßen: dem Sun -Studio. Jarmusch erwartet und verfolgt sie nicht, er läßt sie nicht in die Kamera laufen und läuft ihnen nicht mit der Kamera hinterher. Sein Blick streift. Seine Bewegung ist die der Parallelfahrt. Er filmt Mitzuko und Jun von der Seite. Er begleitet sie ein Stück durch Amerika. Memphis, Tennessee, ist grau, blau und braun, ein bißchen rot und wenig grün.

Zwei Japaner gehen durch Memphis, eine Italienerin hat einen Tag Aufenthalt in Memphis, bevor sie nach Rom zurückfliegt, ein in Memphis ansässiger Engländer hat Frau und Job verloren. Drei Episoden, die nichts voneinander wissen und sich doch berühren: keine Einheit der Handlung, aber der Zeit und des Orts. Alle drei führen in ein verkommenes altes Hotel. Screaming Jay Hawkins ist der Portier. Dreimal hört man Tom Waits als Radio-DJ: „Es ist 2 Uhr 17, hören Sie mein Lieblingsstück für die frühe Nacht, Blue Moon vom King himself.“ DreimalBlue Moon, und am Ende jeder Episode ein Schuß, der erst in der letzten erklärt wird. Dann fahren ein Zug, ein Polizeiauto und ein Pick-up in drei verschiedene Richtungen.

Thierry Chervel