: Stoppt den grünen Schweigemarsch auf Bonn
■ D O K U M E N T A T I O N
I.
Ist Schweigen Gold?
Das grüne Schweigen begann mit einer Rede. Als Christian Ströbele auf dem Duisburger Parteitag seine effektvoll inszenierte Rede für die Berliner Koalitionsvereinbarungen gehalten hatte, wollte die Versammlung darüber nicht einmal diskutieren. Warum nicht? Den einen war peinlich zumute, weil in Berlin die Wahrheit über den grünen Linksradikalismus sichtbar wurde. Sie lautet: Wenn sich nicht genügend viele Realos finden, machen die Fundis die Realpolitik auch selber. Grüner Linskradikalismus ist damit auf seinen verbalradikalen und zugleich opportunistischen Kern geschrumpft. Für die RealpolitikerInnen wiederum liegt nach den alten hessischen und den neuen Berliner Erfahrungen der Schluß verführerisch nahe: Wozu sollen wir eine Koalition propagieren und uns dafür Prügel einhandeln? Warten wir doch lieber, bis der öffentliche Druck zum selben Ergebnis führt.
Der Zwang der Verhältnisse bleibt so tatsächlich stumm. Dadurch sind auch diejenigen strategisch blockiert, die ihre Politik gewöhnlich aus der Abgrenzung zu den Realos machen. Das Linke Forum schweigt mit und wartet auf den großen Knall in Berlin oder eine andere Gelegenheit, die „Unmöglichkeit der Koalition“ nachzuweisen. Mit Blick auf 1990 ist dieses strategische Schweigen fatal. Denn: In der Bundesrepublik zeichnen sich die Umrisse einer „Gezeitenwende“ ab. Die Chancen dieser Situation kann nur eine Partei wahrnehmen, die weiß undsagt, was sie will. Auf Katzenpfoten kommen wir nicht in die rot-grüne Republik.
Wir haben versucht, mit der Urabstimmung über Manifeste das Schweigen zu brechen. Das ist nicht ganz gelungen. Wir wollen weiter, daß sich alle grünen Strömungen deutlich und verbindlich erklären, wir wollen die strategische Debatte und wir kriegen sie auch. II.
Hegemoniales Patt
Die christ-liberale Koalition hat die Wende nicht geschafft. Der Regierungswechsel 1982 war nicht der Anfang einer neuen konservativen Epoche, er war nur das Ende der alten sozialdemokratischen. Das Bedürfnis nach einer „geistig -moralischen Erneuerung“ gab es schon, nur nicht nach der Melodie Kohl: Entfesselung des Marktes und der Risikotechniken, soziale Entsolidarisierung und als Klammer der Appell an den Deutschnationalismus - was bleibt sind Reps und DVU. Für eine richtige Wende a la Thatcher erwiesen sich Wahlmodus und Bevölkerung als zu demokratisch, zu liberal, zu pluralistisch. So wich schon bald der Geist aus der Erneuerung, von der Moral blieben Skandale und Skandälchen.
Heute hat die konservative Politik das bißchen Hegemonie, das sie hatte, wieder verloren - was sich mittlerweile auch in Wahlergebnissen niederschlägt. Die Regierung hat die Hegemonie schon verloren, die Opposition hat sie noch nie gewonnen. Hier sind wir an der entscheidenden Stelle: Warum wollen oder können SPD und Grüne die gesellschaftlichen Mehrheiten, die sie in vielen Einzelfragen nachweisbar haben, nicht in eine neue geistige und politische Hegemonie umsetzen? III.
Gezeitenwende
Die gesellschaftlichen Uferströme weisen auf eine politisch -kulturelle Gezeitenwende hin, ohne die Entstehung, Wachstum und Kontinuität der grünen Partei undenkbar wären. Ökologiebewegung, Frauenemanzipation, der Wille zu Abrüstung und blockübergreifender Verständigung, die Forderung nach demokratischer Transparenz und wirksamer Teilhabe - all das sind lange Wellen der politischen Konjunktur, die längst die Deiche zum Mehrheitsbewußtsein durchbrochen haben.
In der Bevölkerung wächst der Widerwille gegen das konzeptlose Herumstückeln in der Politik. Das besinnungslose „Weiter so!“ jeglicher Provenienz wird immer fragwürdiger, wenn die Kosten des Weitermachens den Nutzen auffressen. Es gibt einen ungestillten Drang nach Wende.
Am deutlichsten ist das in der Ökologie und in der Friedenspolitik. Die Menschen spüren, daß nicht nur diese oder jene (Nicht-)Entscheidung in der Umweltpolitik unsinnig und unverantwortlich ist. Sie wissen, daß tiefgreifende Veränderungen in der Struktur notwendig sind. Sie wollen und sind bereit zu einschneidenden Maßnahmen, wenn sie denn nur etwas bringen. Die Mehrheit der Menschen will nicht nur etwas gebremste Aufrüstung. Sie will eine Abrüstungsoffensive Hand in Hand mit Gorbatschow. In diesem Sinne ist die Bevölkerung radikal, radikaler jedenfalls als die Parteien meinen. Für die Regierung wirkt sich dieser Gezeitenwechsel heute schon als Unfähigkeit zu regieren aus. Die Opposition dagegen kann es nicht glauben. Sie möchte echt sozialdemokratisch - dem Wahlvolk nicht zuviel zumuten. Statt auf die Veränderungsbereitschaft der Bevölkerung zu setzen, spekulieren die rot-grünen StrategInnen auf den Konservatismus der Leute. Statt „Aufbruch zu neuen Ufern“ heißt die geheime Regieanweisung in der Baracke und im Tulpenfeld: „Keine Experimente“. Die sozialdemokratische Seele in SPD und in Grünen wird aus Angst, die WählerInnen zu verschrecken, das Volk enttäuschen. Die Republik neigt zu einer rot-grünen Vision. Was die Parteien anbieten, ist eine mögliche Koalition. Darin liegt schon heute die Gefahr eines zweiten, diesmal viel gründlicheren Rollbacks von (ganz) rechts. IV.
Rote-grüne Krämerseelen
Die grüne Partei ist da, wo sie radikal ist, steril, weil ihr der ökologische und kulturelle Fundamentalismus abhanden gekommen ist. Wo sie sozialdemokratisch ist, ist sie ängstlich auf staatsmännische Reputierlichkeit bedacht. Die Vorbereitung auf ein rot-grünes Bündnis in Bonn beschränkt sich vielerorts auf personalpolitische Puzzlespiele. Bei der SPD ist der Horizont mehrheitlich genauso eng. Vogel und Lafontaine möchten sich alle machtpolitischen Optionen bis 1990 offenhalten. Insbesondere die FDP-Option soll bis zuletzt erhalten bleiben. Auch hier ist die Erfahrung von Berlin prägend. Die SPD hat gelernt, daß der Mangel an politischer Vorbereitung einer Koalition zu Lasten der Grünen geht. Die SPD hat in Berlin in der Lücke zwischen numerischer und gesellschaftlicher Mehrheit für rot-grün und die grünen Politikvorstellungen verschwinden sehen. Klein gedacht nutzt der SPD ein Mangel an Akzeptanz für rot -grün. Diese Art von machtpolitischer Kleinkrämerei macht von vornherein ein rot-grünes Projekt unmöglich. Daß aus sozialdemokratischer Politik in den Grünen und in der SPD eine Koalition wird, ist möglich, aber unwahrscheinlich, von uns aus jedenfalls nicht wünschbar. V.
Koalition anders oder gar nicht
Die Koalitionsfrage ist bei den Grünen beantwortet. Mit Ja. Diese Ja ist eine Absage an die alte metaphysische Diskussion, ob die Grünen Teil des Systems sind oder nicht. Es ist auch eine Antwort auf die moralische Frage, ob sie mitverantwortlich sind für die Folgen der Politik, die aus Parlamenten und Regierungen entspringt, unabhänig davon, ob sie mitregieren oder nicht. Die Grünen fühlen sich verantwortlich auch für die nicht genutzten Chancen zur Veränderung. Die Partei und ihre WählerInnen wissen, wie sehr sie Teil einer Logik sind, die sie bekämpfen. Insofern ist der Versuch des Linken Forums, mit der Tolerierungstaktik hinter den politisch-moralischen Stand der Partei zurückzuspringen, antiquiert. Erst wenn man sich klar ist, daß Tolerierung oder wechselnde Mehrheiten mit der Frage Verantwortung oder Nähe zum „System“ nichts unmittelbar zu tun haben, kann man über diese Optionen wieder reden - unter pragmatischen Vorzeichen.
Auf all das kommt es hier nicht an. Für uns ist der springende Punkt:Sind wir selbst in der Lage und können wir die SPD zwingen, bis 1990 die gesellschaftlichen Unterströmungen zu erkennen, zu verstehen, zu unterstützen und schließlich in Politik zu übersetzen? Können wir eine rot-grüne Vision beleben und einen ähnlichen Effekt erzielen wie Gorbatschow in der Sowjetunion? Wenn wir das nicht in sichtbaren und spürbaren Ansätzen schaffen, wird eine Koalition in Bonn die Grünen überflüssig machen, nichts weiter. Denn soviel ist gewiß: Von den Koalitionen auf kommunaler und Landesebene können wir im Bund strategisch nur begrenzt lernen. Es gibt dann keine Gesamtpartei mehr, die die Fehler beim Experimentieren und die Kosten einer Koalition wieder ausgleichen könnte. Die Grünen konnten in Hessen zu einem Nahe-Null-Ergebnis koalieren, weil die ganze Partei weiterhin ungebremst auf ihre Zielen bestand. Die SPD durfte der AL in Berlin drei Essentials als staatsreligiöse Stöckchen hinhalten. Die Bundesgrünen könnten sich ohne Schaden für das grüne Projekt nicht einmal eine solche Geste gefallen lassen. VI.
Eineinhalb-Jahresplan
für ein rot-grünes Projekt
Ob ein rot-grünes Bündnis für 1990 möglich ist oder nicht, entscheidet sich nicht am Wahltag. Die Frage ist, ob wir in den anderthalb Jahren davor eine rot-grüne Dynamik hinkriegen. Nur dann nämlich, wenn etwas Überschießendes darin steckt, wird ein Bündnis, das ernst macht mit Veränderung, dem Druck von außen überhaupt standhalten können. Bisher hat die Politik über weite Strecken mit der Wirtschaft regiert - auch in sozialliberalen Zeiten. Wenn die Grünen im Bund mitregieren, befindet sich die regierende Politik hoffentlich auch in der Opposition nicht zuletzt zur Wirtschaft. Dann ist die Frage: Auf welche gesellschaftlichen Kräfte können die Grünen sich stützen? Darum muß bis Ende 1990 einiges passieren:
-Die Grünen müssen einen Weg finden, sich nach ausgiebigem Streit auf eine strategische Option zu einigen.
-Sie müssen eine Wahlplattform entwerfen, die nicht alle Wunschträume zusammenschreibt (die ja hinterher sowieso unter dem Koalitionsdruck Makulatur werden). Vielmehr müssen sie in dem Bewußtsein ihre Schwerpunkte planen, daß die Grünen zugleich eine Zwei- und eine 51-Prozent-Partei sind. Sie müssen Minderheitsinteressen sichern und zugleich den politischen Durchbruch bei den Fragen suchen, an denen sie sich auf eine potentielle Mehrheit in der Bevölkerung beziehen können.
-Sie müssen mit einer Kassandra-Politik aufhören, die immer alle Schlechtigkeiten dieser Gesellschaft zusammenfaßt, um dann am Schluß die Lösung als grüne Kaninchen aus dem Hut zu zaubern. Mut zum Beispiel zur multikulturellen Gesellschaft können wir nicht haben, weil wir der Bevölkerung das schon beibiegen werden, sondern weil wir auf vorhandenes demokratisches Bewußtsein in der Bevölkerung setzen.
-Die SPD muß zu einer Politik getrieben werden, die eine Koalition mit der wirtschaftsliberalen FDP de facto ausschließt, unabhängig von den offiziellen Verlautbarungen.
-Sie muß wissen, daß die Grünen für eine Wider-Willen -Koalition nicht zur Verfügung stehen. Eine rot-grüne Koalition ohne eigene politische Qualität würde unweigerlich scheitern.
-Grüne und SPD müssen sich zu einem teils gemeinsamen teils getrennten Werben für andere Denkweisen in der Politik entschließen. Dazu muß es eine Serie informeller Gespräche zwischen SPD und Grünen nicht nur über Sachfragen geben, sondern auch über die Bereitschaft zur Arbeit an einem neuen Projekt.
-Es muß gemeinsame - gemeinsam auch mit Dritten Initiativen zu bestimmten Themen geben (Energiewende, soziale Mindestsicherung, Frauen-Anti -Diskriminierungsgesetz, Umverteilung der Arbeit, Volksentscheid).
-Ein grün-rotes Projekt muß - unter dieser Flagge - schon im Vorfeld der Bundestagswahl die Unterstützung möglichst vieler gesellschaftlicher Initiativen und Organisationen finden. VII.
Wenn Koalition dann so:
Es gibt in dem ganzen grünen Hin und Her über die Koalitionsfrage keine ernstzunehmende Diskussion über unterschiedliche Formen von Koalitionspolitik. FreundInnen und GegnerInnen rot-grüner Regierungsbildung scheinen sich darin einig, daß sich Koalition und Konflikt mit der SPD ausschließen. Entweder drinnen oder draußen, entweder Regierungshandeln oder außenparlamentarische Initiative. Die SPD pflegt diese falschen Alternativen natürlich im eigenen Interesse. Das gehört zu dem Erziehungsprogramm in Sachen „Regierungsfähigkeit“, das sie den Grünen verordnet hat.
Die Grünen können aber Regierungsbündnisse mit der SPD nur eingehen, wenn sie die Fähigkeit bewahren, als autonome gesellschaftliche Kraft zu agieren. Eine Koalition muß die Dynamik gesellschaftlicher Auseinandersetzung fördern, statt sie unter Berufung auf die Bündnisraison zu disziplinieren. Koalitionen bemessen wir nicht nur an ihren politischen Vereinbarungen, sondern daran, ob sie gesellschaftliche Selbstbewegung fördern oder einengen. Das bedeutet zweierlei:
Erstens braucht es Bewegungsformen für politische Konflikte zwischen Koalitionsparteien. Ausklammern ist nicht in allen Fällen die optimale Lösung. Koalitionsloyalität und wechselnde Mehrheiten schließen sich nicht aus.
Zweitens muß eine konsequente Politik der Demokratisierung zum programmatischen Rückgrat jeder grünen Regierungsbeteiligung werden. Wenn es stimmt, daß der Wille zur Veränderung in der Gesellschaft stärker ausgeprägt ist, als das die Parteien heute aufgreifen, müssen wir der Bevölkerung möglichst viele Gestaltungsmöglichkeiten zurückgeben, die ihr Staat und Wirtschaft weggenommen haben. Die Palette dieser Machtverlagerung nach unten reicht von Volksentscheiden, der Ausweitung betrieblicher Mitbestimmung über die demokratische Öffnung von Planungsprozessen bis zur finanziellen und rechtlichen Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung.
Wer über diese Fragen heute nicht reden will, plant den Ausverkauf von morgen - oder eine hübsch einfache Opposition dagegen.
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