Minsk - fest in deutscher Hand

■ In der Belorussischen Hauptstadt wurden über 700.000 Menschen ermordet / Nicht nur die SS war beteiligt, auch Soldaten, Polizisten, die Verwaltung haben es gewußt und die Mordmaschinerie unterstützt

Wer über Minsk, die Hauptstadt Belorußlands, genau Bescheid wissen will, der kann in den „Militärgeographischen Angaben über das Europäische Rußland“ nachlesen, „Mappe E: Weißrußland“. Herausgegeben wurde dieses umfangreiche Werk vom Generalstab des Heeres, Abteilung für Kriegskarten und Vermessungswesen am 15.März 1941. Der Überfall auf die Sowjetunion begann am 22. Juni 1941.

Die Kenntnis der Stadt war sehr detailliert. Als am 24.6.1941 die deutsche Luftwaffe die Stadt bombardierte, konnte sie fast das gesamte Stadtzentrum zerstören. Am 28.6. rückten die deutschen Truppen in Minsk ein und hielten es bis zum 2.Juli 1944 besetzt. In diesen drei Jahren der Okkupation wurden in Minsk 700.000 Menschen ermordet. 70.000 wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert.

Sofort nach der Besetzung errichtete die Wehrmacht mitten in der Stadt ihr erstes Lager. Alle Männer im Alter von 15 bis 50 Jahren wurden zusammengetrieben: 140.000 hinter Stacheldraht. In der Erfolgsmeldung UdSSR Nr.21 des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Berlin vom 13.7.1941 steht: „1.050 Juden wurden zunächst liquidiert. Weitere werden täglich laufend zur Exekution gebracht. Mit der Liquidierung der Kriminellen, der Funktionäre, Asiaten usw. wurde begonnen.“ Und die Ereignismeldung UdSSR Nr.36 vom 28.7.1941 lautet: „In Minsk werden bis auf weiteres täglich 200 Personen liquidiert. Es handelt sich dabei um bolschewistische Funktionäre, Agenten usw., die aus dem Zivilgefangenenlager aussortiert werden.“

Die Kriegsgefangenen und die Zivilisten schaffte man bald in das nahe Lager Drosdy am nordwestlichen Stadtrand, ebenfalls von der Wehrmacht errichtet. Und von dort aus wurden die Kriegsgefangenen in das große Stammlager (Stalag) 352 beim Dorf Masjukowtschina überführt. Dieses Stalag wurde, wie alle Lager, für sowjetische Kriegsgefangene zu einem Vernichtungslager. Wie überall in den besetzten sowjetischen Gebieten mußten die Gefangenen im Freien übernachten, auch im Winter bei minus 30 Grad. Wie überall in den besetzten Gebieten wurden die Menschen durch Erfrieren, Verhungern, durch Seuchen, durch Auszehrung vernichtet. Nach 1944 fanden die Befreier in der Umgebung des Stalag Massengräber mit 120.000 Leichen.

In der Stadt selbst gab es außerdem noch vier Kriegsgefangenenlager: im Süden auf dem Gelände des Güterbahnhofs und neben dem Flughafen, im Norden auf dem Ausstellungsgelände und an der Logoisker Straße. Das von Zivilisten gefürchtetste Lager in Minsk aber war das an der Schirokaja-Straße (heute Warschauer/Ecke Kujbischew-Straße). In dieses Lager steckten die Deutschen all jene, die zur Liquidierung bestimmt waren. Von hier aus transportierte man sie auf LKWs zur Erschießung zwölf Kilometer südöstlich von Minsk nach Trostenez. Oder sie wurden mit Gaswagen abgeholt, in denen sie unterwegs durch die eingeleiteten Auspuffgase getötet wurden.

Mitte Juli 1941 richtete die Wehrmacht ein Ghetto ein, bewacht wurde es durch die deutsche Polizei. Über 100.000 Menschen wurden hier in zwei Hälften zusammengepfercht: eine für die weißrussischen Juden, die andere für die Juden aus dem Reich. Von November 1941 bis 1943 trafen Züge aus Berlin, Hamburg, Bremen, Düsseldorf, Köln, Frankfurt am Main, aus Wien und Brünn in Minsk ein. Die deutsche Hälfte wurde in ein Hamburger, ein Berliner, ein Frankfurter etc. Viertel aufgeteilt. Wenn ein neuer Zug gemeldet war, beeilten sich die deutschen Behörden, durch Abtransporte von Gefangenen Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Der Bestimmungsort der abtransportierten Menschen: der Erschießungsort Trostinez, zwölf Kilometer südöstlich von Minsk. Dieser Ort wurde zum Auschwitz Belorußlands. Hier allein wurden 206.000 Menschen erschossen und verbrannt. Wer heute als Tourist nach Minsk kommt, wird nach Chatyn geführt, zu jener großen Gedenkstätte für die belorussischen Opfer. Hier hatte die Brigade Dirlewanger das Dorf mitsamt seinen Bewohnern verbrannt. Von Trostinez jedoch ist nichts geblieben als eine Wiese. Die Deutschen haben das Lager bei ihrem Rückzug planiert.

Entgegen der deutschen Nachkriegslegende war nicht nur die SS an den Verbrechen beteiligt, sondern auch die Wehrmacht und die Ordnungspolizei, bis zum einfachen Gendarm, waren Teil der Vernichtungsmaschinerie. Immer wieder wird in den Ereignismeldungen die tatkräftige Unterstützung durch die Ordnungspolizei und die Wehrmacht betont: „Durchkämmung des Ghettos von Minsk. Unter Hinzuziehung der Ordnungspolizei und mit Unterstützung der Feldgendarmerie wurde die Großaktion im Ghetto durchgeführt.“ (Ereignismeldung UdSSR Nr.92 vom 23.9. 1941)

Überall waren Bekanntmachungen der Wehrmacht angeschlagen, die darüber Auskunft gaben, weshalb eine Person erschossen werden konnte: Wer das Wohnviertel oder gar die Stadt verließ, wer Schuß-, Hieb-, oder Stichwaffen oder gar ein Rundfunkgerät besaß, wer während der Sperrstunde von 18 Uhr bis 6 Uhr früh ohne Sonderausweis auf der Straße angetroffen wurde, wer Fremde in die Wohnung aufnahm, wer Eigentum der Wehrmacht beschädigte, wer keinen Ausweis bei sich hatte. Sogar, wer einen deutschen Soldaten nicht freundlich genug grüßte. Ohnehin hatte jeder Soldat das Recht, jeden Russen auf der Stelle zu erschießen. In einem Erlaß vom 13.Mai 1941 stellte Hitler einen Freibrief für die Soldaten aus: „Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und ihres Gefolges gegen feindliche Zivilisten begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen ist.“

Kurz vor dem Rückzug versuchten die deutschen Besatzer die Spuren zu verwischen. Das „Enterdungskommando 1005-Mitte“ wurde nach Blagowschtschina bestellt. Dieses Sonderkommando ließ durch russische Gefangene die halbverwesten Leichen aus den Gruben holen und verbrennen. Ähnlich gingen andere Sonderkommandos bei anderen Vernichtungsstätten vor. Doch zum Verwischen aller Spuren fehlte die Zeit.

Im Minsker „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“ ist ein Stadtplan zu sehen, der zeigt, wie sich die Deutschen die Zukunft von Minsk vorgestellt hatten: In der Mitte der Stadt ein großes Krematorium, ringsherum ein Ring mit Kasernen für die deutschen Truppen. Dazu kam es nicht: Die Rote Armee hat Minsk am 2.Juli 1944 befreit.

Paul Kohl