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Das Gefängnis der Nationen

■ Die Unruhe der Untertanen im russischen Reich / Überlegungen zur sogenannten Nationalitätenfrage in der UdSSR

Bohdan Nahaylo

Die unter Gorbatschow eingeführte Politik der Demokratisierung (Glasnost) und ökonomischen Umstrukturierung (Perestroika) hat nicht wenige bisher unterdrückte Wahrheiten über das sowjetische System aufgedeckt und gleichzeitig zahlreiche aufgestaute Kräfte geweckt. Auf keinem anderen Gebiet sind die Konsequenzen so dramatisch wie im Bereich der nationalen Beziehungen.

Die Unruhen in Kasachstan am Ende des Jahres 1986, der armenisch-aserbaidschanische Konflikt um Nagornyi-Karabach, der Vorstoß der baltischen Republiken für die Wiederherstellung ihrer Souveränität sind ebenso wie zahllose Demonstrationen der Krimtartaren und die zwielichtigen Aktivitäten der ultranationalen Russen der Pamyat-Gruppen nur die bekanntesten Ereignisse im Zusammenhang mit dem, was die sowjetischen Behörden euphemistisch die „Nationalitätenfrage“ nennen.

Seitdem die Zensur gelockert wurde, hat auch die sowjetische Presse offene Berichterstattung über dieses traditionell heikle Thema zugelassen. Nach Jahren offizieller Schönfärberei hat sich auf diese Weise die nationale Problematik in der UdSSR als komplexe, akute und potentiell explosive Frage entpuppt.

Was geschieht da also, und was steht auf dem Spiel? Ist das Ganze ein Fall von „Nationalisten“ und „Extremisten“, die Gorbatschows liberalere Politik ausnutzen? Oder geht es um eine grundsätzlichere und ernstere Angelegenheit?

Im Westen benutzt man die Begriffe „Rußland“ und „Sowjetunion“ oft fälschlicherweise synonym und vergißt darüber, daß die UdSSR der größte multinationale Staat und eines der letzten Großreiche der Welt ist. Die Russen selbst machen dabei kaum 50 Prozent der 285-Millionen-Bevölkerung aus - und dennoch sind sie nach wie vor die dominante Nation.

Die gegenwärtigen Schwierigkeiten spiegeln ein Auseinanderfallen von Theorie und Praxis in Moskaus Nationalitätenpolitik wider. Gewalt allein, so erkannte Lenin bereits, würde nicht ausreichen, um das aus vielen Bruchstücken zusammengesetzte zaristische russische Reich oder „das Gefängnis der Nationen“, wie er es nannte zusammenzuschweißen. Nach der militärischen Eroberung umwarb man daher die Nicht-Russen mit Zugeständnissen, die ihr Vertrauen und ihre Loyalität gewinnen sollten. Der implizite „National-Vertrag“ versprach den Nicht-Russen souveräne Staatlichkeit, Gleichheit und volle kulturelle Rechte innerhalb der sowjetischen Föderation. Weiterhin sollten die Strukturen des imperialen Erbes aufgelöst und jede Russifikation verboten werden. Bis auf eine kurze Zeitspanne in den zwanziger Jahren war diese stillschweigende Übereinkunft, unter Nicht-Russen kurzerhand das „leninistische Prinzip“ der sowjetischen Nationalitätenpolitik genannt, lediglich ein Lippenbekenntnis.

Allein die Diskussion der Nationaliätenfrage war bis vor kurzem verboten, nicht-russische Aktivisten kamen ins Gefängnis, und eine Politik der Russifikation wurde verfolgt, verbunden mit dem Zwang zur russischen Sprache auf Kosten der nationalen Sprachen und aufdringlicher Anpreisung von allem, was russisch war. Nicht nur fielen alle wichtigen Entscheidungen in Moskau, sondern die Sprachen, Kulturen und nationalen Geschichten der nicht-russischen Völker waren einem starken Assimilationsdruck ausgesetzt, der sich nur dürftig hinter internationalistischer Rhetorik verbarg. Das Ergebnis war, daß der Groll und die Entfremdung der nicht -russischen Völker der UdSSR wuchs, während gleichzeitig die Existenz eines Nationalitätenproblems offiziell dementiert wurde. Anfang der achtziger Jahre gab es jedoch nicht nur Zeichen von Unruhe in einigen Republiken, sondern es wurde klar, daß das Problem der Nationalitäten die Fähigkeit des Kremls empfindlich einschränkte, Schlüsselfragen der Ökonomie, Sozialpolitik und des Militärs zu lösen. Russifizierung

Ebenso wie Mitte der fünfziger Jahre, als der Griff sich nach Chruschtschows Stalin-Rede etwas lockerte, begannen auch unter Gorbatschow und Glasnost die Nicht-Russen, ihren Beschwerden und Klagen Ausdruck zu geben und an den Kreml zu appellieren, die Bedingungen des ursprünglichen Nationen -Vertrags anzuerkennen, auf dem die Gesamtgründung der Sowjetunion angeblich ruht.

Als Gorbatschow 1985 an die Macht kam, beschäftigte er sich zunächst möglichst wenig mit der Nationalitätenfrage, es sei denn, daß die Ökonomie ihn dazu zwang. Ohne es ausdrücklich zu wollen, ließ er jedoch trotzdem den Geist des nicht -russischen Nationalismus aus der Flasche.

Der neue sowjetische Führer begriff schnell, daß es für seinen Kurs der ökonomischen Umstrukturierung und zur Mobilisierung der heterogenen Bevölkerung der Sowjetunion für seine Ziele die Unterstüzung der Intelligenzija brauchte, besonders der Meinungsmacher - Schriftsteller, Künstler und Journalisten. Um sie für sich zu gewinnen, lockerte er die Zensur und die Kontrolle des kulturellen Lebens. Glasnost nahm jedoch schnell eine eigene Dynamik an und verbreitete sich von Moskau und Leningrad aus auch in die nicht-russischen Republiken.

Von Anfang an war deutlich, daß nicht-russische Intellektuelle andere Sorgen und Prioritäten hatten als ihre russischen Kollegen. Auf der ersten großen Versammlung, auf der sie ihre Probleme darstellten - im Juni 1986 auf dem achten Kongreß der sowjetischen Schriftsteller in Moskau -, sprachen sie von ihrer Sorge um die Verdrängung ihrer Sprachen durch das Russische und beklagten die Kontrolle Moskaus über das kulturelle Leben ihrer Nationen insgesamt. Einige gebrauchten gar Wörter wie „Großmacht-Chauvismus“ und „Entnationalisierung“. Die mutigen russischen Delegierten forderten dagegen die Aufhebung der Zensur und die Veröffentlichung der verbotenen Werke Pasternaks und Achmatowas.

Die Sprachenproblematik wurde zum ersten wichtigen Kampfplatz. Nicht-russische Sprecher - unter ihnen viele Schriftsteller und Dichter - stellten dabei nicht in Frage, daß in einem multinationalen Staat, der ein Sechstel der gesamten Erdlandmasse und etwa hundert verschiedene Nationen umfaßt, der Gebrauch einer lingua franca zwingend und praktisch unabdingbar ist. Wogegen sie jedoch protestierten, war die rüde Art und Weise, in der die russische Sprache weniger gefördert als ihnen aufgezwungen und in der gleichzeitig klargemacht wurde, daß die nicht-russischen Spachen sekundär, provinziell und langfristig überflüssig seien. Angelegenheiten der Partei, des Handels, Universitätsausbildung, Naturwissenschaft und Technologie waren dabei vollkommen zu Domänen der russischen Sprache geworden.

Im Dezember 1986 appellierten 28 belorussische Intellektuelle an Gorbatschow, ihre fast zehn Millionen Menschen zählende Nation vor „geistiger Vernichtung“ zu bewahren. Die Russifikation ihrer Republik war so weit fortgeschritten, daß nur noch in einer städtischen Schule die Landessprache überhaupt unterrichtet wurde. Ihre Nachbarn, die Ukrainer, gaben bekannt, daß sie trotz eines 73 bis 76 Prozent zählenden Anteils an der 50 Millionen zählenden Gesamtbevölkerung der Republik nur noch 16 ukrainische Schulen hätten und ungefähr 50 Prozent der Kinder in russischen Schulen und Kindergärten unterrichtet würden.

Auch Kasachstan ist ein bezeichnendes Beispiel. Nach den Unruhen im Dezember 1986 in Alma-Ata beschuldigte die 'Prawda‘ kasachische Aktivisten des „nationalen Egoismus“, und zwar aufgrund ihrer Forderung nach mehr kasachischen Schulen und Kindergärten. Später wurde jedoch in der kasachischen Presse enthüllt, daß 1987 nur noch sechs Prozent der etwa eine Million zählenden Kinder im Vorschulalter in ihrer Muttersprache unterrichtet wurden.

Balten, Ukrainer und Belorussen begannen gemeinsam, Verfassungsgarantien zur Verbesserung und zum Schutz ihrer Muttersprachen zu fordern. Dies entwickelte sich schnell zu einer Bewegung, die den Status der offiziellen Landessprache für die Muttersprachen anstrebten, wie es bereits in Georgien, Armenien und Aserbaidschan der Fall war. Die erste Reaktion darauf aus Moskau und von regionalen Parteien war negativ. Der Druck jedoch ließ nicht nach und Anfang 1989 hatten die baltischen Volksfronten für nationale Erneuerung Erfolg und ebneten so den Weg auch für andere. Es gibt Anzeichen dafür, daß die Behörden auch in der Ukraine, der Moldaurepublik und womöglich anderen Republiken schließlich nachgeben müssen.

Auch den vielen Millionen Nicht-Russen, die außerhalb ihrer Republiken in anderen Teilen der UdSSR leben, sind bisher selbst Basiseinrichtungen für die eigene Sprache und Kultur vorenthalten worden. Beispielsweise stehen den sechs Millionen Ukrainern, die im fernen Osten der Sowjetunion, in Kasachstan, Rußland und der Moldaurepublik leben, seit der Stalinzeit nicht eine einzige ukrainische Schule, Zeitung oder Radiosendung zur Verfügung. Zur Entnationalisierung verdammt, werden sie selbst zu potentiellen Agenten der Russifizierung.

Die etwa 25 Millionen außerhalb der russischen Föderation lebenden Russen haben diese Probleme nicht. Im Gegenteil, die überwältigende Mehrheit dieser Russen macht sich nicht die Mühe, die regionale Sprache zu lernen und führt sich oft genug auf, als seien die jeweiligen Republiken nichts anderes als eine Unterabteilung ihrer Heimat. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Nicht-Russen - und besonders die kleinen baltischen Nationen und die Moldauer - den Zuzug von Russen in ihren Republiken zu beschränken versuchen: eine Frage des nationalen Überlebens.

Ein weiteres Anliegen der Nicht-Russen ist ihre jeweilige Nationalgeschichte und die Sorge um die Rehabilitation ihrer kulturellen und politischen Prominenzen, die in früheren Perioden sowjetischer Herrschaft ermordet, gefangen oder verbrannt wurden. Vor kurzem gab der Vorsitzende des staatlichen Bildungs- und Erziehungskomitees der UdSSR, G.A.Yagodin, die grobe Fahrlässigkeit zu, mit der nicht -russische Geschichte in der Historiographie behandelt wird. In einer Rede auf dem Allunionstag der sowjetischen Lehrer und Erzieher im Dezember 1988 sagte er, daß „die Lehrbücher die Geschichte der UdSSR in beträchtlichem Ausmaß weiterhin als die Geschichte des russischen Volkes und russischen Staates darstellen“.

Bald wurde bekanntgegeben, daß die Werke russischer monarchistischer Historiker, von Karamasin, Solowyew und Klyuchewsky - die allesamt bei Nicht-Russen als Pfeiler imperialer russischer Geschichtsschreibung gelten - wieder publiziert werden sollen, neben russischen antisowjetischen Schriftstellern wie Gumilew und Nabokow. Mit Hinweis auf diese Konzessionen an die Russen verstärkten auch die Nicht -Russen ihre Anstrengungen zur Rehabilitation ihrer eigenen verbotenen Historiker und Schriftsteller. Zur gleichen Zeit verwiesen sie auch auf die „weißen Flecke“ auf der Landkarte ihrer Geschichte. In den vergangenen 18 Monaten haben Nicht -Russen tatsächlich einige Fortschritte im Kampf um die Korrektur der Geschichtsschreibung machen können. Ukrainer und Kasachen haben beispielsweise die offizielle Anerkennung der Tatsache durchsetzen können, daß im Zuge rücksichtsloser Kollektivierung in der Stalinzeit Millionen ihrer Landsleute durch Terror und Hunger in den dreißiger Jahren umgekommen sind. Die Balten konnten ihrerseits die Behörden zwingen, den Text des Molotow-Rippentrop-Vertrages zu veröffentlichen und so die Diskussion über die Geheimabsprachen zwischen Nazis und Sowjets zu eröffnen, die das Schicksal Estlands, Lettlands und Litauens besiegelt haben. Religionen

Auch Religion spielt eine Rolle bei der Nationalitätenfrage. Von der Liberalität Gorbatschows konnten einige, aber bei weitem nicht alle religiösen Gruppen profitieren. Die neue Politik kam vor allem der russisch-orthodoxen Kirche und in geringerem Grad - der litauischen katholischen Kirche zugute; ebenso profitierte der offizielle Islam. Wie die ukrainische Kirche ist jedoch auch die ukrainische autokephal-orthodoxe Kirche1 weiterhin verboten; Appelle für ihre Legalisierung stoßen weiterhin auf taube Ohren. Doch der Druck auf nicht-etablierte islamische Gruppierungen wird aufrechterhalten, obwohl der Ruf nach einer Änderung der offiziellen Haltung gegenüber diesen Gruppen vor kurzem selbst in der sowjetischen Presse laut wurde.

Daß es mit der Liberalität des Kremls nicht weit her ist, wurde im vergangenen Jahr deutlich, als der 1000.Jahrestag der Christianisierung des archaischen Kiewer Rus2 gefeiert wurde. Obwohl sich das kulturelle und historische Erbe von Russen, Ukrainern und Belorussen gleichermaßen aus dieser Zeit des frühen Mittelalters herleitet, waren die Feierlichkeiten eine ausschließlich russische Angelegenheit; keinerlei ukrainische oder belorussische Traditionen wurden besonders zur Kenntnis genommen. Gorbatschow und der damalige sowjetische Präsident Gromyko gingen sogar so weit, den Jahrestag ausdrücklich als Feier von tausend Jahren „russischer“ Kultur und Staatlichkeit zu würdigen. Diese Haltung hatte viele wütende Briefe und Proteste aus der Ukraine zur Folge. Im Februar 1989 prangerte ein ukrainischer Priester die Politik der russisch-orthodoxen Kirche gegenüber seiner Nation heftig an und formierte nach seiner Entlassung aus der Gemeinde eine Initiativgruppe für die Wiederherstellung der ukrainischen autokephal-orthodoxen Kirche (siehe 1).

Einige zentral-asiatische Schriftsteller wiesen außerdem darauf hin, daß der Staat die prunkvollen Feiern von tausend Jahren „russischer Orthodoxie“ kräftig finanzieren helfe, gleichzeitig viele Moscheen jedoch geschlossen blieben und verfielen und die Presseattacken gegen den Islam keineswegs nachließen. Im Februar äußerte sich die wachsende Entschiedenheit der Moslems in einer Demonstration in Taschkent gegen das Oberhaupt des Islams im sowjetischen Zentralasien, Mufti Babhanov, die zu seiner Entlassung führte.

Ein anderes Anliegen der Nicht-Russen ist der Schutz der Umwelt. Diese Problematik überschneidet sich deshalb mit der Nationalitätenfrage, weil die Entscheidungen z.B. über den Bau von Atomkraftwerken und chemischen Fabriken in Moskau fallen. Das Desaster von Tschernobyl, die katastrophalen Konsequenzen der Austrocknung des Areal-Sees und das alarmierende Ausmaß von Verschmutzungen haben die Menschen nicht nur gegenüber ökologischen Fragen sensibilisiert, sondern sie haben ihnen auch die Ohnmacht ihrer Republiken angesichts des Diktats zentraler Ministerien vor Augen geführt; einige nicht-russische Sprecher verglichen die Moskauer Ministerien bereits offen mit multinationalen Konzernen. In der gesamten Sowjetunion bildeten sich inzwischen Umweltschutz- und „grüne“ Bewegungen; beispielsweise wird in der zentralasiatischen Republik gegen die schwerwiegenden Konsequenzen der Baumnwollmonokultur potestiert, und in der Ukraine gibt es eine starke Opposition gegen den weiteren Ausbau der Kernenergie in ihrem Gebiet.

Bis 1988 weigerte sich Moskau trotz der Proteste, die Notwendigkeit zur kritischen Bestandsaufnahme und Änderung ihrer Nationalitätenpolitik anzuerkennen. Stattdessen versuchte man, das Problem durch geringe und stückweise Konzessionen zu entschärfen, zum Beispiel durch Einsetzung von Kommissionen zur „ethischen Frage“ auf Republikebene, durch Entspannung an der Sprachenfront und einem allgemeinen Appell an das „Taktgefühl“. Im Sommer 1987 zeigte sich jedoch, daß die Probleme sich nur zuspitzten.

Die kulturellen Eliten hatten in den meisten Republiken inzwischen demonstriert, daß sie fest entschlossen waren, „Glasnost“ und Demokratisierung beim Wort zu nehmen und die Einführung des „neuen Denkens“ in der sowjetischen Nationalitätenfrage als Indikator für die Ernsthaftigkeit des gesamten Prozesses anzusehen. Anerkannte Persönlichkeiten des nicht-russischen Kulturlebens wie der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow, der belorussische Autor Wassil Bykow und die armenische Dichterin Silva Kaputikyan sprachen sich in der Presse für die Sache der Nicht-Russen aus. Außerdem machten die Unruhen in den baltischen Republiken und besonders der armenisch -aserbaidschanische Konflikt um Nagornyi-Karabach das Risiko deutlich, das der Kreml einging, wenn er versuchte, sich weiter einfach nur irgendwie durchzumogeln.

Die Nagornyi-Karabach-Problematik war immerhin seit Jahrzehnten virulent. Bereits 1966 hatte Silva Kaputikyan warnend geschrieben, daß Moskau „gegenüber Problemen, die in unserem Volk zu schwerer Besorgnis Anlaß geben, eine Indifferenz zur Schau trägt, die einer Staatsführung nicht gut zu Gesicht steht“. Sie hatte darauf hingewiesen, saß „die Geschichte voll ist mit Beispielen dafür, wie multinationale Staaten auseinanderfallen, wenn sie ihr Nationalitätenproblem nicht ernsthaft angehen“. Es war daher kein Zufall, daß die gefeierte Dichterin eine der beiden armenischen Delegierten war, die auf dem Höhepunkt der Karabach-Unruhen Gorbatschow trafen, und die schließlich zwei Monate später, nachdem ihre Erwartungen enttäuscht wurden, einen scharfen Samisdat-Brief an die russische Intelligenz richtete, in dem sie die tiefe Enttäuschung ihres Volkes über Moskaus Krisenmanagement formulierte. Tauziehen

Die Lage spitzte sich zu, als die estischen Kulturgewerkschaften im April 1987 ein radikales Programm verabschiedeten und massenhaft patriotische Bewegungen in den Baltischen Republiken entstanden - die Volksfronten zur Unterstützung von Perestroika. Die Esten, später gefolgt von Letten und Litauern, verschoben den Schwerpunkt von rein kulturellen Angelegenheiten und dem Umweltschutz zu Fragen der Politik und Ökonomie, ganz besonders aber zur Frage der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität der nicht -russischen Republiken.

Auf dem 19.Parteitag im Sommer 1988 folgten Delegierte anderer nicht-russischer Republiken dem Vorstoß der Balten, mehrere Republik-Parteivorsitzende forderten die Rückkehr zu einem wirklich föderalen System und die Wiedereinsetzung des Nationalitäten-Vertrags. Der Auftritt der Nicht-Russen bei dieser wichtigen Zusammenkunft war so unmißverständlich, daß einige ihrer Forderungen in die Parteitagsresolutionen eingingen. Man hatte einen Durchbruch erreicht: die Parteiführung war gezwungen, die Rechte der nicht-russischen Republiken anzuerkennen.

Zumindest schien es zunächst so. Trotz ihres Sieges in dieser prinzipiellen Frage wurde das Tauziehen zwischen Moskau und den Republiken nur heftiger. Im Oktober 1988 versuchte die Gorbatschow-Mannschaft einen Rückzug von den Positionen, die auf dem 19.Parteitag erreicht worden waren, und zwar durch Zusätze in der sowjetischen Verfassung, die statt Erleichterungen zusätzliche Beschränkungen zur Folge gehabt hätten.

Eine schwere Verfassungskrise folgte, in der die Esten die Opposition gegen die regressiven Änderungen anführten und ihre Forderung nach „Souveränität“ ihrer Nation beteuerten. Im November wurde ein mühsamer Kompromiß ausgehandelt - die Atmosphäre jedoch besserte sich nicht. Gorbatschow hat angekündigt, daß ein Sonder-Plenum des Zentralkomitees Mitte dieses Jahres abgehalten würde, um den zukünftigen Kurs der sowjetischen Nationalitätenpolitik festzulegen. In der Zwischenzeit aber sind die Konflikte schärfer geworden, von der Moldaurepublik im Südwesten der UdSSR bis Tadschikistan im Osten Zentralasiens. Die ernste Lage und die Erkenntnis, daß Erfolg oder Niederlage von Perestroika durchaus vom Verhalten in der Nationalitätenfrage abhängen mag, hat zumindest den Ton der Kremlpolitik geändert.

Am 6.Januar 1989 empfing Gorbatschow Repräsentanten der sowjetischen Kultur- und Wissenschaftlerelite. An seiner Rede war bemerkenswert, wieviel Mühe er sich gab, den Nicht -Russen zu versichern, daß auch er eine entgegenkommendere Haltung ihnen gegenüber jetzt für notwendig halte. Er erklärte sich als Gegner des Konzepts „verschmelzender“ Nationen und sagte, daß die Partei nicht „das Verschwinden auch nur des kleinsten Volkes“ und „der Sprache auch nur der kleinsten Nation zulassen darf“. Vier Tage nach diesem Treffen gab das Zentralkomitee ein an Partei und Bevölkerung gerichtetes Schreiben heraus, in dem es zusichert, das anberaumte Plenum werde eine „beträchtliche Ausweitung der Rechte der Republiken“ und die Stärkung ihrer Souveränität beschließen. Gorbatschow versprach außerdem ein neues Gesetz zur Sprachenproblematik, das nicht-russischen Sprachen mehr Schutz gewähren solle.

Nichtsdestotrotz blieb vieles, was Gorbatschow und Parteiführung bisher zur Nationalitätenfrage gesagt hatten, vage und widersprüchlich. Das erwähnte Schreiben des Zentralkomitees beispielsweise operiert mit der Parole eines „starken Zentrums und starker Republiken“ als Reformprinzip in der nationalen Sphäre - obwohl dies zunächst einmal ein Widerspruch in sich ist.

Die Diskussion über den zukünftigen Kurs hat sich intensiviert. Immerhin haben zahlreiche Russen öffentlich ausgesprochen, daß die weiterhin im wesentlichen imperiale Beziehung zwischen Russen und Nicht-Russen nach kritischer Überprüfung verlangt und den letzteren neue Verhandlungen angeboten werden müssen. Diese „psychologische Umstrukturierung“ hat den Kreml jedoch offenbar noch nicht erreicht. Denn der Programmentwurf für die ökonomische Autonomie der Republiken, der im März veröffentlicht wurde, sieht weiterhin eine nur beschränkte Kontrolle der Republiken über ihren Haushalt vor und beläßt die Entscheidung über Standort und Verwaltung der Schwerindustrie in der Hand Moskaus. Ähnlich bezeichnend war die Tatsache, daß eine Sonderkomission des Obersten Sowjets

-so Radio Moskau am 8.April - die Forderung der Nicht -Russen nach einer Revision des Union-Vertrages zurückwies, der eine neue Basis für die Beziehungen zwischen Republiken und Zentrum gelegt hätte.

Während Moskau mit dem Anbieten von Halbheiten weitermacht und das Problem vor sich herschiebt, wird das Nationalitätenproblem immer brisanter. Zwei weitere Ereignisse dieses Frühjahrs haben diesen Eindruck bestärkt. Die Wahlergebnisse im März bestätigten die Stärke der nationalen Bewegung im Baltikum und die zunehmende Frustration in anderen Republiken, besonders in der Ukraine und Moldaurepublik. Und einen Monat später explodierte eine weitere Bombe im Minenfeld der Nationalitäten, diesmal in Georgien. Am 9.April unterdrückten militärische Einheiten den Aufstand in Tiflis und ließen 19 Tote zurück.

Die entscheidende Frage ist, ob Gorbatschow und sein Team den Frühling in den sowjetisch regierten aber keineswegs völlig sowjetisierten Nationen als das begreifen, was er ist und sich den neuen Realitäten stellen. Die Nicht-Russen jedenfalls scheinen zu jedem Risiko bereit. Entweder wird der Nationalitäten-Vertrag in der einen oder anderen Form wiederhergestellt oder die Spannungen innerhalb des unruhig gewordenen sowjetischen Imperiums werden unkontrollierbar. Aufrechterhaltung eines Großreiches und Demokratisierung jedenfalls sind miteinander unvereinbar - und Moskau wird nicht beides gleichzeitig haben können.

1 Autokephalie: die kirchenrechtlich begründete Unabhängigkeit regionaler Volkskirchen von ihren kirchenleitenden Organen (in Ostkirchen). So wird etwa der leitende Bischof durch Gremien des Kirchengebiets autonom gewählt.

2 Kiewer Rus: Im Kiewer Reich - 9. bis 12.Jahrhundert begann die Christianisierung der ostslawischen Fürstentümer und Völker; Moskau war damals eine völlig unbedeutende Festung.

Bohdan Nahaylo ist zusammen mit Victor Svoboda Autor des Buches „Soviet Disunion“, das in diesem Jahr bei Hamish Hamilton, London, veröffentlich wird.

Nicht-russische Autoren, deren Werke in deutschen Übersetzungen im Westen erhältlich sind: u.a. Isaak Babel (Ukraine), Tschingis Aitmatow (Kirgisien), Fasil Iskander (Georgien), Michajlo Kozjubynskyi (Ukraine), Schota Rustaweli (Georgien); eine Sammlung moderner Erzähler aus Georgien liegt im Manesse-Verlag vor. Im Verlag Volk und Welt (DDR) wurden Werke folgender Autoren veröffentlicht (u.a.): Ruben Howsepjan (Armenien), Tschingis Hüssejnow (Aserbaidschan), Wassil Bykow, Wassil Bykau (Belorußland), Enn Vetemaa, Mari Saat (Estland), Micheil Dshawachischwili (Georgien), Abisch Kekilbajew (Kasachstan), Visvaldis Lams (Lettland), Mikolas Sluckis (Litauen), Ion Druta (Moldaurepublik), Wolodymyr Drosd, Oles Gontschar (Ukraine), Timur Pulatow (Usbekistan).

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