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Zwischen Gorbimanie und Gorbiphilie

Heute kommt Gorbatschow nach Paris - für viele Franzosen eher ein Anlaß zu Reflexionen über das französich-deutsche als das französisch-sowjetische Verhältnis / Themen des Besuchs sind unter anderen atomare Abrüstung und die Zusammenarbeit in Europa  ■  Aus Paris Georg Blume

Heute kommen die Gorbatschows nach Paris - doch richtige Freude will in der französischen Hauptstadt nicht aufkommen. Politikern und Meinungsmachern sitzt der Triumphzug des Kreml-Pärchens durch die Bundesrepublik im Nacken. Wie kann es da die Grande Nation dem sowjetischen Welteroberer noch recht und besser machen? Man nimmt lieber Abstand vor dem unheimlichen Gast, zumal Gorbatschow mit der Forderung, auch französische Atomwaffen in die Abrüstung einzubeziehen, ein heißes Eisen mit an die Seine bringt. Daneben stehen Gespräche über das Konzept der nuklearen Abschreckung, die Ergebnisse der Wiener KSZE-Verhandlungen, die europäische Einigung und der Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf dem Programm.

Für viele Franzosen steht mit dem Gorbatschow-Besuch jedoch weniger das französisch-sowjetische als vielmehr das deutsch -französische Verhältnis zur Debatte.

Nicht etwa über die morgen in Paris zur Unterzeichnung vorliegenden insgesamt 21 Abkommen über die französisch -russische Zusammenarbeit, deren Umfang bisher unerreicht ist, erregt sich Frankreichs UdSSR-Spezialist Michel Tatu. Statt dessen zeichnet er in 'Le Monde‘ ein in seinem ätzenden Strich selten erreichtes Zerrbild der „gorbimanen“ Bundesdeutschen.

Die Franzosen hingegen, von denen einer Umfrage zufolge immer noch mehr Fran?ois Mitterrand und Helmut Kohl (65 bzw. 61 Prozent) ihr Vertrauen schenken als Gorbatschow (60 Prozent), seien nur „gorbiphil“ und bewahrten ihren Skeptizismus. Schier „unglaublich“ ist es für Tatu, daß angeblich 82 Prozent der Westdeutschen ('Spiegel'-Umfrage) vom Gelingen der sowjetischen Reformen überzeugt sind. Die Bundesdeutschen sähen in der Perestroika „auf sentimentale Art das Zeichen für die Verbrüderung der Völker“. Lange Zeit ist es her, daß die in den deutsch-französischen Beziehungen sonst sehr vorsichtig kommentierende 'Le Monde‘ in einen derart aggressiven Ton gegenüber dem Rhein-Nachbarn anschlägt. Sie greift damit allerdings eine unter Intellektuellen vorherrschende Stimmung auf.

Während sich französische Politiker aus Regierung und Opposition bisher meist um Ausgleich bedacht zu den Reformentwicklungen in Osteuropa äußern (Premierminister Rocard: „Die Perestroika hat noch keine militärische Übersetzung gefunden“), philosophieren heute zahlreiche Pariser Intellektuelle von rechts und links über die Gefahren des „Gorbatschowismus“, wie Starhistoriker Fran?ois Furet die neue, von ihm entdeckte Ideologie aus dem Osten nennt. Nicht umsonst gelang dem Soziologen Alain Minc mit seiner zu Jahresbeginn veröffentlichen Schrift Die große Illusion ein Bestseller-Erfolg. Darin warnt der Autor vor dem „Reich der Mitte“, das mit einer vom Osten verführten Bundesrepublik neu entstehe. Als einziges Mittel gegen die Gorbatschowschen Erfolge preist Minc die politische und atomare „Fusion“ zwischen Paris und Bonn. Damit ist wieder gesagt: Rußland-Politik ist zuallererst Deutschlandpolitik. Obwohl fürs letzte Jahrhundert nichts neues, ist heute nicht absehbar, wieweit diese Feststellung - sollte sie erneut zum vorherrschenden Element Pariser Politik werden - das deutsch -französische Verhältnis langfristig verändern wird.

In Paris wird es sich Gorbatschow nicht nehmen lassen, die französische Verstimmung auszunutzen. Er bestand auf einem Bad in der Menschenmenge auf dem Platz der Bastille - gegen den Willen des Elysee-Palasts. Mitterrand unternimmt offenbar alles, damit die Pariser nicht schon eine Woche vor seiner großen Feier, dem Revolutionsjubiläum, in Feststimmung geraten.

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