: Das Beatles-System
■ L.S.Christensens Roman über eine Jugend in den 60ern
Thomas Groß
Wer waren John, Paul, George und Ringo? Die Beatles natürlich, das weiß auch heute noch jedes Kind. Doch warum waren sie gerade als Vierergruppe derart folgenreich für die Musik - wie auch die allgemeine Geschichte? Warum brach für viele eine Welt zusammen, als dieses Freundschaftskonglomerat sich auflöste? Und wieso waren die Beatles als Einzelkünstler nicht mehr in dem Maße erfolgreich wie zuvor, eben nie wieder die richtigen echten Beatles?
Eine mögliche Erklärung des Beatles-Geheimnisses (und um ein Geheimnis handelt es sich trotz oder eben wegen des Stellenwertes der Gruppe im öffentlichen Bewußtsein) liegt gerade in ihrer Funktion als Gruppenidentität. Die Beatles ergänzten sich gegenseitig auf nahezu perfekte Art und Weise. Der englische Popkritiker Nik Cohn schrieb vor längerer Zeit einmal über dieses seltsame Phänomen: „Lennon war der Brutale, McCartney der Hübsche, Ringo Starr der Liebenswürdige und Harrison der Ausgeglichene. Und wo Lennon taktlos war, war McCartney ein geborener Diplomat. Und wenn Harrison begriffsstutzig wirkte, war Lennon sehr clever. Und wo Starr ein Clown war, war Harrison beinahe melancholisch. Und wenn McCartney ein Ästhet war, war Starr ein einfacher Junge. Immer rundherum und rundherum..., und das Ganze erzeugte ein beruhigendes Gefühl von Geschlossenheit.“
Von Bedeutung ist also nicht die Einzelpersönlichkeit, nicht die Eigenschaft an sich, sondern der perfekte innere Stoffwechsel der Gruppe, ihr differentielles Gleichgewicht. Die Beatles schufen damit die Fetischform eines immens folgenreichen Gruppenparadigmas. Waren nicht in den Sechzigern in jeder Politgrupe, jeder Wohngemeinschaft und später auch den meisten Redaktionsstuben auf irgendeine Art John, Paul, George und Ringo mit von der Partei? Entdeckte nicht jeder an sich selbst überdeutlich John-, Paul-, George- und Ringo-Aspekte? Hatten nicht sogar die wesentlich älteren vier Hauptvertreter der Kritischen Theorie plötzlich Züge der Fab Four? War das erst einmal geschluckt, hielten John, Paul, George und Ringo auch Einzug in die Formen des Wissens, ließ sich - ähnlich wie mit Yin und Yang, doch profaner und in seinen Kombinationsmöglichkeiten um zwei Komponenten erweitert ein ganzes in sich dynamisches, aber doch relativ geordnetes Welterkenntnissystem auf das Vierergleichgewicht aufbauen. Es ist nicht zu leugnen: Das Beatles-System leuchtete Millionen von jugendlichen Fans ein, ein Sachverhalt, den sich auch der Norweger Lars Saabye Christensen in seinen Roman Yesterday zunutze gemacht hat. Er beschreibt die Geschichte vierer Teenager aus Oslo, deren Pubertät mit der Beatlemania zusammenfällt. Die Beatles werden ihr Urerlebnis, an dem sie den ganzen Roman über festhalten. In den knapp zehn Jahren der Geschichte der Beatles altern sie um ein ganzes Zeitalter, während sie unablässig träumen. Sie träumen davon, die Beatles zu sein, lassen ihr Haar Beatles -synchron wachsen, planen eine eigene Gruppe mit den paranoiden Namen „The Snafus“ ( Situation Normal All Fouled Up), aus der dann nie etwas wird.
Doch das Erlernen eines Musikinstruments ist gar nicht notwendig zur Codierung der eigenen Geschichte anhand von Beatles-Aspekten. Entscheidend ist das Grundprinzip Vier -Typen-Lehre, das die Protagonisten variantenreich immer wieder an sich selbst durchdeklinieren: „Ola war Pykniker, kein Zweifel, und Gunnar Athletiker, Seb war natürlich Leptosome und ich, ich war Dysplastiker.“ Wie in der mittelalterlichen Kosmologie den vier physiologischen Grundtypen vier Körpersäfte, diesen wiederum vier Organe, vier Elemente, vier Himmelsrichtungen usw. entsprachen, die in einem komplexen inneren Verweisungszusammenhang zueinander standen und sich ständig durchmischten, fächert sich in Christensens Roman die Welt der sechziger Jahre anhand von John, Paul, George und Ringo alias Gunnar, Kim, Seb und Ola auf. Das funktioniert erstaunlich gut, weil die Entwicklung der Beatles, die Ausdifferenzierung ihrer Gruppenidentität eben tatsächlich jenen kategorialen Rahmen vorgibt, dem sich die Systeme von Mode, Religionen, Fußball, Drogen und Politik in vielen ihrer Facetten zuordnen lassen. Jeder synchrone Schnitt enthält als Vierer -Figurenkonstellation monadenhaft die gesamte Typologie eines diffus wuchernden Protestverhaltens. Gunnar schafft die ersten Pornos herbei, ist forsch, aber auch ein wenig verklemmt (aha, d. säzzer), spielt Mittelstürmer, fängt irgendwann an zu studieren, um gleich darauf für mehrere Jahre zum prüden Leninisten zu werden. Kim ist der zweite Mann, der alle Entwicklungen in abgemilderter Form mitbekommt. Er fällt auf nichts so schnell herein, beherrscht zwar einerseits den gängigen Jargon, kann aber in seinem Innersten keine wirkliche Euphorie dafür entwickeln, eine Art Kyniker mit sentimentalen Zügen. Seb ist der erste der vier, der den Konfirmandenunterricht schmeißt und von zu Hause auszieht, landet über die Zwischenstufe des Kiff- und Suffkopfs dann aber zeitweilig bei den Children of God. Ola schließlich hat die undankbare Rolle des Stotterers und Spaßmachers, dem immerhin im Gegensatz zu seinen scheinbar überlegenen Freunden im richtigen Moment der richtige Spruch einfällt.
Vor diesem norwegischen Proto-Beatlestum tritt in Christensens Roman konsequenterweise alles andere in den Hintergrund. Eltern und Liebschaften spielen eine untergeordnete Rolle, Klassenkameraden führen bloß am Rande verlaufende, teils katastrophale Nicht-Beatles-Alternativen vor, die den Viererkosmos letztlich in seiner Überlegenheit bestätigen. Einzig Stig, Gunnars älterer Bruder, hat im Romangefüge noch eine tragende Rolle. Er bringt Beschleunigung ins Geschehen, indem er immer schon weiter ist, die neusten Trends in die Vierergruppe hineinträgt. Er läßt die Stimme der Straße im Jugendzimmer erklingen oder erscheint - sozusagen als Weltgeist - mit einer neuen Beatlesplatte (später schon mal Dylan und Doors) unterm Arm im Türrahmen.
So lebten sie hin. Christensen läßt die vier noch zusammen sein, als die „realen“ Beatles sich schon längst aufgelöst haben, die heroische Ära des Rock vorbei und die Wirren der siebziger Jahre an der Reihe sind. Harte Zeiten: „Wir hatten nicht die geringste Chance herauszukommen, lagen schon im warmen Bauch der Zukunft und wurden verdaut“ - zu viert, versteht sich. Noch die Erzählperspektive, die in die innere Gleichwertigkeit der Vierergruppe eine Differenz einführt (weil ganz konventionell nur einer zu Wort kommt), bestätigt indirekt die Bedeutung der Fab Four. Kim, das heißt Paul, der totgeglaubte Beatle, spricht. Er ist der Überlebende. Wie Jonas der Prophet wird er aus dem Bauch der siebziger Jahre herausgespuckt, um die Kunde weiterzutragen - was auf ironische Weise ja auch dem heutigen, endgültig besiegelten Zerfallsstadium des „realen“ Beatlesphänomens entspricht.
Als erzählte Soziologie der sechziger Jahre funktioniert Christensens mit Theobaldy-Witz, Kempowsky-Atem und Kundera -Erfolgsinstinkt zum Besten gegebene Geschichte einwandfrei. Keineswegs zufällig ist Yesterday in Norwegen seit Jahren ein Bestseller. Immerhin nimmt Christensen seinen Gegenstadt ernst genug, um ihn nicht, wie das hierzulande lange Mode war, als bloßes Beiwerk einer im Grunde ausschließlich politischen Entwicklung abzutun. Trotz einiger Ungereimtheiten trägt die Viererstruktur den Roman weitgehend unterhaltsam über 557 Seiten hinweg.
Doch bekanntlich haben die Beatles auch Musik gemacht, und das verarbeitet der Roman nur unzureichend. Zwar tragen alle Kapitel als Überschriften die Titel von Beatles-Songs und eröffnen so eine Chronologie, die von I feel fine (Frühling 65) über Revolution (natürlich 68) und Golden Slumbers (70/71) führt, sie verhalten sich zu ihrem Sound-Vorbild aber bloß illustrativ. Behäbig schreibt der Erzählduktus einem Geschehen hinterher, an das seine formalen Mittel nicht heranreichen, dann „das, was nicht geschah, aber hätte geschehen können, war viel phantastischer als das, was wirklich geschah, an einem Aprilabend im Urrapark, 1965“.
Der Roman tut sich deshalb schwer, weil im Grund ja kaum etwas geschieht. Nachrichten trudeln ein, die Pubertät schüttet ihre Säfte aus, und ein paar Platten erscheinen, die ein folgenreiches, aber schwer abbildbares Zusammentreffen von Sound und Körper zeitigen. Es ist eben „Situation Normal All Fouled up“. Alles nichts Besonderes und doch auf Hundertachtzig, eine unsichtbare, nonverbale Aufheizung von Körpern.
Wie der EMI-Hund aus dem Schalltrichter His Master's Voice dechiffriert, sitzen die norwegischen Proto-Beatles vor batteriegetriebenen Apparaten und warten auf eine Botschaft aus dem Äther. Unablässig versuchen sie, diesen Medienemissionen das Rätsel der eigenen Geschichte abzulauschen. Sie betrinken sich, werden krank, kotzen, sind ratlos, unglücklich verliebt, werden gewalttätig und geraten außer sich, um dann wieder zusammenzusitzen und Platten zu hören, als wäre nichts geschehen. All das kann Christensen nur von seiner äußersten Symptomseite her fassen oder metaphorisch umschreiben („Cecilies dunkler Blick streifte wie ein Radiosender an mir vorbei...“). Sprechblasen stellen die Verbidung zum Allgemeinen her. Vietnam („Es war Krieg. Es war Revolver“), Woodstock („Oh Mann, das war Peace and Love! Eine halbe Million!“) und die neueste Platte der Doors („Das Stärkste seit Pepper!“) passieren Revue, ohne dabei mehr abzugeben als eine zeitgeschichtliche Staffage. Auf geradezu hilflose Weise schreibt Christensen die Kapitulation seiner Helden vor einer kaum noch einzuholenden Gegenwart nach: „Das war doch etwas viel auf einmal. Die Sowjets und die CSSR. Gunnar und Sidsel. Seb und Guri. John Lennon und Yoko Ono. Beatles und die Revolution.“
Vielleicht ist es deshalb auch zu viel verlangt, von einem Unterhaltungsroman Aufschlüsse über den Zusammenhang von Wahrnehmungsentgrenzung, Technik und politischer Entwicklung der sechziger Jahre zu erwarten, wo die Wirklichkeitsverständnisse ohnehin am Wanken sind und die regredierende Schriftkultur nonverbalen Datenströmen hinterherhinkt. Ein bißchen Beschleunigung hätte Christensens Roman aber doch gut getan. Wie murmelte doch der Musterungs-Arzt vor sich hin, der von Kim McCartney in altbewährter Felix- Krull-Manier durch künstliche Herstellung von Hysterie-Symptomen getäuscht wird: „Von den Nerven wissen wir irgendwie alle zu wenig.“
Lars Saabye Christensen: Yesterday. Popa Verlag, München 1989, 557 S., 39,80 DM
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