: Furcht
O Furcht, ich fürchte
Was? Ich frage dich:
-Was fürchtest du?
Das frage ich mich.
Das Urteil ist ein furchtsamer Feind.
Aber ich hab‘ keinen Feind. Ich
fürchte mehr: Daß die Nacht
eine große Apfelsinenschale wär‘
und das Fruchtfleisch zwischen meinen Lippen
ich fürchte - es ist möglich.
Es ist möglich. Du - was fürchtest du?
daß mein Gesicht durchsichtig ist, in ihm sitzt du
und siehst mich an. Wir sehen einander an.
Fleisch sprießt eilig aus diesem, miteinander geteilten Gesicht.
Mehr noch fürcht‘ ich, daß mir
wenn mich eine Krankenschwester
zusammennäht nach einer Operation
zur Einpflanzung eines fremden Auges
die Köpfe von zwei Kindern erscheinen.
Der eine schreit herum
oder beide gleichzeitig
ich fürchte mich vor beiden. Die Phantasie fürchtet beide.
Von einem zerbrochenen Fenster
kriege ich nur
einen Kopf, aus dem Scherben stehen
und zwei entsetzliche Hände
am Sargdeckel festgemacht
und es sind deine Hände
ich mag nicht daran denken.
Von der oberen Hälfte eines Baumes
sägte sich
meine untere Hälfte, und du schmerzst
Schreie, schrei du
ich fürchte nicht mehr. Ich schmerze nicht
Ich schmerze kein bißchen. Und dann schreie
Ja, du fürchtest nicht mehr. DuoDuo
Duoduo (geb. 1951), dessen Geburtsname Li Shizheng ist, war bis zu dem Massaker auf dem Tiananmenplatz Journalist bei einer der großen nationalen Zeitungen Chinas. Gleichzeitig schrieb er seit Beginn der Kulturrevolution Gedichte.
Seine Gedichtsammlung „Lisheng“ erhielt den 'Heute' -Lyrikpreis 1989; 'Heute‘ ist der Titel der wichtigsten literarischen Untergrundzeitung Chinas, herausgegeben von Mag Ice und Bei Dao.
Duoduos Lyrik ist allgemein - und auch von ihm selber - als nicht politische eingeordnet worden. Dennoch war sie wegen ihres Tons, ihres Modernismus und ihres unterschwelligen „Individualismus“ den Machthabern immer schon suspekt.
Am 5.Juni traf Duoduo in London ein, zu einer seit längerem geplanten Lesereise anläßlich seines (im Bloomsbury-Verlag) neu publizierten Gedichtbandes „Looking Out From Death“.
In einem Interview sagte er kürzlich zum Thema Kunst und Politik: „Die intellektuelle Vorarbeit ist in den letzten, etwa zehn Jahren geleistet worden. Jetzt ginge es nicht mehr ums Gedichteschreiben sondern darum, selbst mit auf den Straßen zu demonstrieren... Diesmal war es wie eine Revolution. In Zeiten der Revolution ist kein Platz für Kunst, nur für Propaganda. Und dennoch braucht man auch die Propaganda ... aber das heißt, auf die Straßen marschieren und Slogans rufen. Es heißt nicht, seine Kunst in ein Propagandainstrument für die Revolution zu verwandeln.“
In der neuesten Ausgabe von 'Lettre International‘ (Nr.6) finden sich im Rahmen zahlreicher Texte zu China ein weiteres Gedicht von Duoduo und sechs Prosatexte, außerdem der 23teilige Gedichtzyklus „Tagtraum“ von Bei Dao. Von Bei Dao sind weitere Gedichte in Wolfgang Kubins Sammlung chinesischer Lyrik „Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne“ erschienen sowie die Erzählung „Die Heimkehr des Fremden“ im Erzählband „100 Blumen“ (Hrsg. W.Kubin). Beide bei Suhrkamp
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