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Was wird aus uns?

■ „Herr Schmidt, einer von der Gestapo“ - ein Film aus der DDR

In Roza Berger-Fiedlers Dokumentarfilm Herr Schmidt, einer von der Gestapo werden wir Zeugen einer Verhandlung vor dem Bezirksgericht in Dresden gegen den ehemaligen SS -Obersturmbannführer, Kriminalkommissar und Leiter des für die Vernichtung der Juden zuständigen Referats in Dresden, Henry Schmidt. Schmidt, Jahrgang 1912, gelernter Maurer, zuletzt Geschäftsführer der AWG (Arbeiterwohnungsgenossenschaft) „Empor“ in Altenburg wurde im April 1986 verhaftet. Er betont in der Verhandlung, daß er sich nach 1945 nicht in den Westen abgesetzt habe, sondern in der DDR geblieben sei. Jetzt sollte mit allem, was gewesen ist, Schluß sein. Er wollte jetzt nur an die Familie denken. Familie, das heißt: seine Frau und zwei Kinder, eine Tochter, die heute als Hortnerin und Unterstufenlehrerin tätig ist; sein Sohn ist Ingenieur. „1986 wurde er als verdienter Techniker des Volkes ausgezeichnet. Ich habe für meine Kinder alles getan, um sie ordentlich zu erziehen, sie ordentlich etwas werden zu lassen.“

In seinem Schlußwort sagt Schmidt: „Ich habe mich in all den 42 Jahren seit dem Ende meiner verhängnisvollen Tätigkeit bei der Gestapo immer bemüht, alles das vergessen zu machen, woran ich mitgewirkt habe und wofür ich verantwortlich gewesen bin. Dabei habe ich versucht, durch eigene fleißige Arbeit, durch meinen bestmöglichen Einsatz beim Neuaufbau einer besseren und menschlicheren Gesellschaft mitzuwirken...“

Urkunden, auf die die Kamera ohne Kommentar hinweist, sind dafür ein Beleg. Er war wieder ein guter Funktionär, auch nach 1945. Am Schluß des Films wird der Untertitel eingeblendet: Filmische Dokumentation einer Beamtenkarriere. Als Beamter und Funktionär hat er gründlich die Zeit, die nun im Prozeß dokumentarisch offengelegt wird, versucht auszublenden. In den Personalbögen hat er nach 1945 seine Tätigkeit bei der Gestapo und seine Parteizugehörigkeit verschwiegen. Dafür gab er einen Ort in Schlesien an, wo er als Baukaufmann tätig gewesen sei. Das ehemalige Dienstgebäude der Gestapo in Dresden war durch den Bombenangriff zerstört und somit auch die Unterlagen. Er ging davon aus, daß von seinen Opfern keiner mehr leben würde.

„Keiner prüft genau. Denn er war doch der gute, der bekannte Herr Schmidt“, so ein Kommentar im Film. Schmidt: „Meine Kinder haben niemals erfahren, was ich gemacht habe.“

Was wird ihm zur Last gelegt?

Vor der Beweisaufnahme erfahren wir von dem Staatsanwalt: Er hat mitgewirkt daran, daß die im Machtbereich der Gestapo Dresden lebenden 985 Bürger jüdischer Herkunft verfolgt... mindestens 723 Opfer in das Ghetto Theresienstadt, das Vernichtungslager Auschwitz und andere Konzentrationslager deportiert wurden, wo die Mehrheit den Tod gefunden hat. Am 13.Februar 1945 hat er die erforderlichen Maßnahmen zur Deportation der letzten hundert jüdischen Bürger im Bereich der Gestapo-Leitstelle Dresden getroffen. Bis zum September 1944 organisierte Schmidt zehn Transporte in das sogenannte Altersghetto Theresienstadt. Von 375 Mann fanden 312 den Tod. Nur 25 Personen überlebten nachweislich. Im November 1942 vereinbarte Schmidt mit dem Rüstungskonzern Zeiss-Ikon AG die Errichtung eines Zwangsarbeitslagers in Dresden -Hellerberg. Mindestens 300 Menschen wurden dorthin verscheppt. Im März 1943 wurden sie unter seiner Mitwirkung nach Auschwitz deportiert. Vier Menschen fanden nach ihrer Festnahme und durch Folterungen im Gefängnis der Gestapo den Tod. Mindestens 48 Opfer wurden nach grausamen Mißhandlungen auf Schmidts Vorschlag in Konzentrationslager deportiert. 34 wurden von ihnen dort ermordet.

Nach über 40 Jahren treten einige der Opfer, die überlebten, dem Täter gegenüber. Sie berichten von den Schlägen, Mißhandlungen und Deportationen.

Wo lag der Beginn für eine Entwicklung, die hier im Gerichtssaal endet? Ist Schmidt eine Ausnahme, etwas Besonderes?

Die Einflußnahme durch nationalsozialistisches Gedankengut setzt bereits in der Schule ein. Noch nicht 18 Jahre alt, wird er im April 1929 Mitglied der HJ. Als gelernter Maurer wird er arbeitslos und wird als Hilfspolizist eingezogen. In dieser Zeit nimmt er an einem Lehrgang in der Gauschule der SA teil. Schmidt: „Wir waren ja Schüler, wir mußten das machen, was angeordnet war.“ Zum Lehrgang gehörte auch der Besuch eines Konzentrationslagers. Zur „Belohnung“ kommt er dann nach der Wannsee-Konferenz im Janaur 1942, von der er erst „jetzt“ erfahren hat, nach Dresden. Hier wurde er Leiter der Referate für Kirche, Juden, Emigranten, für Wirtschaft und für Presse.

Befragt nach den Hintergründen der „Reichskristallnacht“ antwortet Schmidt: „Das sind alles Dinge, die mir nachträglich bekannt geworden sind. Ich habe mich nicht damit beschäftigt... Ich weiß nicht, welche Aufgaben für das Altersghetto Theresienstadt von den vorgesetzten Dienststellen beabsichtigt waren...“

Entgegen diesen Aussagen versucht die Verhandlung mühsam Spuren des Wissens aus der Erinnerung offenzulegen.

Am Schluß faßt der Staatsanwalt zusammen: „Die Totenbücher mahnen... sind Zeugen, wie die Aussagen der wenigen Überlebenden... von der unermeßlichen Schuld des Angeklagten, denn bereits mit seinem ersten Verbrechen, dem 50 Menschen zum Opfer fielen, hatte er ein Leben in Freiheit verwirkt. Den ersten Opfern waren Hunderte gefolgt. Die starben nur aus dem Grund, weil sie als Kinder jüdischer Väter und Mütter geboren waren... Somit muß der Angeklagte für immer aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Damit erfüllen wir das Vermächtnis des antifaschistischen, wie auch des jüdischen Widerstands und aller Opfer des Faschismus. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Verhütung neuen Völkermordes und zur Sicherung des Friedens und zur Wahrung der Menschenrechte.“

Es wird eine lebenslängliche Freiheitsstrafe und die Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte für immer beantragt. Diesem Antrag wird durch das Gericht entsprochen. So endet „eine Beamtenkarriere“.

Wenige Tage vor der Aufführung hier in West-Berlin fand die Uraufführung in Ost-Berlin statt. Roza Berger-Fiedler, die im Anschluß der Aufführung hier in West-Berlin zu einem Gespräch bereit ist, schildert: Seit 1957 lebe ich als Jüdin in der DDR. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt: Was war mein Gegenüber damals? Wie wurde verfahren in dem Land, wo hüben wie drüben 90 Prozent bis fünf Minuten vor dem Ende „Heil“ geschrieen haben?... Der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozeß hatte damals viele entlastet mit dem Hinweis: Schuld sind die da, die auf der Anklagebank sitzen. Die anderen hatten sich mit auf die Seite der Sieger geschlagen. Die Täter beklagten ihre Opferrolle, sie klagten über die Opfer, die sie zu erbringen hatten. Was aber wurde aus den Opfern von einst? Was geschah da mit den Tätern? Stellten sie nicht, die Täter von einst, ihre Eigenschaften: Ordnung, Disziplin, Gehorsam in den Dienst der neuen Gesellschaft? „Durch fleißige Arbeit, durch bestmöglichen Einsatz“, so Schmidt, haben sie beim Aufbau mitgewirkt, und so, auch in diesem Deutschland, das sich den Mantel des Vermächtnisses antifaschistischer Traditonen umhängt, eine Aufarbeitung der Vergangenheit verhindert.

Die andern sind Schuld! Immer wieder und wieder haben wir dies gehört und geschrieben. Und wir?

Berger-Fiedler sagt: „Noch nie haben wir einen solchen Film gemacht. Er ist ein Anfang. Nur wenn wir das Wir finden, dann kann es ein Schritt in die richtige Richtung sein.“

Die Handlungsnotwendigkeit wird in das Publikum verlagert. Hier sollte der Prozeß weitergehen.

Schmidt wird ausgegrenzt, lebenslang. Ist das eine Lösung? So wird aus dem Publikum heraus gefragt. Wir haben wieder oder noch einen Schuldigen gefunden; wir haben ihn verurteilt, das Vermächtnis ist erfüllt. Der Aufbau der neuen Gesellschaft kann weitergehen wie bisher. Ausgrenzung ist keine Lösung. Das haben wir, nicht nur in dieser Gesellschaft, schon längst erkannt. Die Ursachen liegen tiefer. Gibt es überhaupt ein Äquivalent für diese Verbrechen? Diese Verbrechen sind nur möglich geworden, weil andere mitgemacht haben als Handlanger, Zubringer, Mitläufer, als Wählerpotenzial: mögen sie Schmidt, Meier, Schulze oder wie auch immer geheißen haben. Was wird aus ihnen? Was wird aus uns?

Dietmar Linke

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