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Harry Tisch geht als nächster: morgen

■ Der Gewerkschaftsbund der DDR mußte unter dem Druck der Basis die Verschiebung der Grundsatzdiskussion zurücknehmen: am Donnerstag geht es weiter - und Harry Tisch tritt zurück / Drei Bezirksverbände und Einzelgewerkschaften waren massiv geworden

Berlin/Moskau (dpa/afp/ap/taz) Der Bundesvorstand des DDR -Gewerkschaftsverbandes FDGB mußte nach massiver Kritik der eigenen Basis eine Kehrtwendung vollführen: nachdem drei Bezirksvorstände des FDGB und mehrere Einzelgewerkschaften am Dienstag den Rücktritt Tischs und die sofortige Fortsetzung der Vorstandstagung gefordert hatten, ist die Fortsetzung der Diskussion nun für morgen angesetzt. Laut ADN wird Harry Tisch bei dieser Gelegenheit seinen Rücktritt erklären.

Die Proteste kamen aus den Bezirken Dresden, Erfurt und Berlin sowie von dere Gewerkschaft Wissenschaft, der Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Landwirtschaft- und Forstgewerkschaft. Die Kritiker begründeten ihre Forderung mit einer Welle von Austritten und Austrittsdrohungen und der Sorge um den Fortbestand des Gewerkschaftsverbandes.

Auf der allwöchentlichen Massendemonstration in Leipzig am Montag abend waren auch schon Forderungen nach einer unabhängigen Gewerkschaft laut geworden. Insgesamt waren am Montag in verschiedenen Städten 500.000 Menschen auf die Straße gegangen. Scharfe Kritik an der Informationspolitik der Gewerkschaft im Zusammenhang mit der Vorstandssitzung übte gestern die 'Berliner Zeitung‘ in Ost-Berlin. Erst seien Pressevertreter nicht zugelassen worden, dann hätte man sie eingeladen, um sie dann schließlich auszuschließen.

Unterdessen ist SED-Parteichef Egon Krenz gestern zu seiner ersten Auslandsreise in neuer Funktion nach Moskau geflogen. In einem Interview mit dem sowjetischen Fernsehen wünschte er den sowjetischen Genossen „neue Erfolge auf dem Gebiet der Perestroika“. Damit habe er schon angedeutet, worum es auch in der DDR gehe: „Ich möchte, daß der schöpferische Sozialismus zur Angelegenheit des ganzen Volkes wird.“ Des weiteren meinte Krenz, eine breite Entwicklung der sozialistischen Demokratie sei sehr wichtig, erst kürzlich habe er bei einer Betriebsbesichtigung bemerkt, daß man dort die Demokratie wie die Luft zum Atmen brauche. Gleichzeitig bekräftigte er noch einmal den Führungsanspruch der SED. Am Donnerstag wird Egon Krenz zu einem eintägigen Arbeitsbesuch nach Warschau fahren.

Bestärkt durch die erneuten Massendemonstrationen forderte der Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD) der DDR, Manfred Gerlach, in einem Interview mit der 'Jungen Welt‘ jetzt konkrete Schritte im Reformprozeß. Auf die Frage nach der führenden Rolle der SED in der Gesellschaft meinte er: „Wenn man die Abschaffung der führenden Rolle der SED fordert, dann begibt man sich in Opposition zur jetzigen Verfassung, zur jetzigen Struktur unserer Gesellschaft. Gleichzeitig meine ich, daß die Frage anders steht, wenn eine solche Forderung in einer Gruppe oder Gemeinschaft diskutiert wird, die gesetzlich anerkannt ist.“ Andererseits unterstreicht Gerlach im gleichen Interview „die objektive Notwendigkeit der führenden Rolle Fortsetzung auf Seite 2

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der Arbeiterklasse und ihrer Partei“. Der Sekretär des LDPD -Vorstandes, Christian Renatus, regte einen „Fahrplan der Erneuerung“ an, in dem die anstehenden Probleme erarbeitet und der Bevölkerung zur Diskussion unterbreitet werden sollen.

Einer Meldung der 'Bild'-Zeitung zufolge soll auch Margot Honecker als Volksbildungsministerin zurückgetreten sein.

Für mehr Demokratie auch in den Leitungsgremien der Kulturbereiche plädierten Kulturschaffende der DDR auf einer Veranstaltung des Hauptvorstands der CDU. Wie am

Dienstag bekannt wurde, sind am Wochenende Vertreter der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) in Ost-Berlin zu einem landesweiten Treffen zusammengekommen. Die Initiative schloß sich dem Aufruf der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ an, die kürzlich einen Volksentscheid über die führende Rolle der SED verlangt hatte. Die IFM war vor vier Jahren als erste unabhängig arbeitende Gruppe gegründet worden.

khd

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