: Politik mit Zahlen
■ Das schwierige Feld der Aids-Prävention
Aids besteht für die meisten Menschen aus Zahlen. Ohne die direkte Konfrontation mit den Betroffenen, mit Kranken, Infizierten, Pflegern, Ärzten formt sich das Bild von dieser Krankheit vor allem entlang der in wechselnden Abständen veröffentlichten Statistiken, Berichte und Reports, die alle mit Zahlen, Trends und Hochrechnungen gespickt sind. Je weniger man weiß, desto heftiger wird gerechnet. Auch die Gesundheitsministerin Lehr hat gestern neue Zahlen vorgelegt, die sie als „alarmierend“ bezeichnete. 221 neue Aids-Fälle in einem Monat, darunter gleich zehn heterosexuelle Übertragungen. Eher nebenbei hat die Ministerin auch den Grund für den sprunghaften Anstieg der Aids-Zahlen genannt: Schlichte Unregelmäßigkeiten bei der Erfassung der Erkrankungsfälle. Aber da nun der Anstieg schon mal da war, wurde er auch benutzt, um den Bundesbürgern in Sachen Aids wieder mal ein wenig einzuheizen. Und das ist nicht mal falsch.
Lehrs sorgenvoller und sicher berechtigter Appell, die Krankheit ernst zu nehmen, zeigt das Dilemma der Aids -Politik. Nach der Korrektur der anfangs apokalyptischen Dimensionen und dem allmählichen Realitätsgewinn geht es jetzt darum, Sensibilität und öffentliche Aufmerksamkeit für eine Krankheit wachzuhalten, die in den Medien und in den Köpfen immer weniger präsent ist. Nicht nur für die Ärzte ist die Immunschwächeerkrankung zur Routine geworden. Und wo der Kondomverbrauch zurückgeht und die Prävention wieder „lässiger“ gehandhabt wird, versuchen nun die Aufklärer, mit Appellen und Krankenzahlen immer wieder zu intervenieren, um die für die Prävention notwendigen „Angst-Anteile“ in Sachen Aids stabil zu halten. Daß die objektiven Ausmaße dieser Krankheit schlimm genug sind und eigentlich ausreichen müßten, ist offensichtlich. Nur: für diesen ganz normalen Aids-Alltag“ interessiert sich kaum noch jemand. Die monatlich mehr als 400 neuen Infektionen in der Bundesrepublik, die unter starken Ängsten lebenden Schwulen, das Elend der Fixer, sie sind kein Thema.
In dieser Situation braucht es schon ein paar dramatische Zahlen, um auf dem Nachrichtenmarkt zu überleben. Daß mit diesen Zahlen Politik gemacht wird, wissen alle. Frau Lehrs Oktober-Bilanz ist nur der aktuellste Beleg dafür.
Manfred Kriener
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