piwik no script img

Wohin treibt die DDR?

Jetzt drückt die SED auf das Tempo  ■ K O M M E N T A R E

Das Tempo der Entwicklung in der DDR wurde bisher vom „Druck der Straße“ diktiert. Zentrale Forderungen sind jetzt praktisch schon eingelöst. Wie soll es weitergehen? Dafür Perspektiven zu entwickeln, wäre die Aufgabe der verschiedenen politischen Organisationen, der etablierten ebenso wie der oppositionellen. Die Opposition steht vor dem Problem, daß sie von dem durchschlagenden Erfolg ihrer Forderungen fast überrollt wird. Sie muß den erkämpften politischen Spielraum ausfüllen, sich Strukturen geben, die über die Zirkelexistenz hinausgehen, sie müßte Antworten auf die durch die Öffnung der Grenzen aufgeworfenen Fragen formulieren und weitergehende und konkretere Reformprojekte für die einzelnen gesellschaftlichen und politischen Probleme entwickeln. Das sind gigantische Aufgaben in einem Land, dessen politische Kultur sich in einem embryonalen Zustand befindet. All das erfordert Zeit - an Zeit aber mangelt es.

Die kleineren Blockparteien, in denen es schon seit Jahren vor sich hingegrummelt hat, scheinen darauf besser vorbereitet. Nicht nur haben sie praktisches Know-how gesammelt, kennen die Problembereiche und ihre Verhandlungspartner in Staat und SED, haben Strukturen, die demokratisch vitalisiert werden können, sondern sie haben auch politische Traditionen, die wieder ausgegraben werden können. Die beiden „Blockparteien“, die am deutlichsten in den Vordergrund getreten sind, die Liberaldemokraten und mit etwas Verspätung - die CDU, sind Parteien, deren Geschichte über die vierzig Jahre DDR hinausreicht. Sozialliberalismus und christlicher Sozialismus sind Ansätze, mit denen sich in der gegenwärtigen Situation zumindest arbeiten läßt.

Die rasanteste Entwicklung macht gegenwärtig wohl die SED durch. Sie - besonders ihre Führung - hat gewiß das gravierende Problem fehlender Glaubwürdigkeit. Aber diese Führung scheint inzwischen begriffen zu haben, daß sie - und eventuell sogar die Partei selbst - politisch nur überleben kann, wenn sie sich an die Spitze einer Bewegung stellt, die sie nicht verhindern kann. Für dieses Unterfangen verfügt sie über einen enormen politischen Vorteil: Sie konnte über einige Jahre die Logik des Reformprozesses in anderen sozialistischen Ländern beobachten und kennt jene Positionen, die längerfristig unhaltbar sind. Deshalb kann sie Prozesse, die in anderen Ländern Monate, wenn nicht Jahre gedauert haben, in Wochen nachvollziehen.

So hat die Spitze der SED inzwischen wohl eingesehen, daß sie die politische Führung gerade dann verlieren wird, wenn sie weiter „die führende Rolle der Partei“ postuliert. Im neuen „Aktionsprogramm“ taucht dieser Terminus kein einziges Mal auf. Statt dessen finden sich neue Begriffe: „gleichberechtigtes Bündnis“ und „demokratische Koalitionsregierung“. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu erraten, welche Überlegung dahintersteht: Das Buhlen um die Ex-Blockparteien hat begonnen, eine Entwicklung wie in Polen soll auf jeden Fall verhindert werden. Der Beschluß, die geplante Parteikonferenz in einen Sonderparteitag umzuwandeln, geht in die gleiche Richtung: Er nimmt nicht nur Druck von Seiten der Parteibasis weg, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, mit einer weniger kompromittierten Führungsmannschaft - vielleicht sogar einigen Frauen - und besser motivierten Mitgliedern ins politische Rennen zu gehen. Ganz offenkundig will die SED jetzt den Zeitfaktor ausspielen. Daß als nächstes von ihrer Seite „freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahlen“ zum nächstmöglichen Zeitpunkt gefordert werden, ist nicht mehr auszuschließen. Die Opposition wird Schwierigkeiten haben, bei diesem Tempo mitzuhalten.

Walter Süß

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen