: Ventile für den Volkszorn
■ Jetzt wird die Bevölkerung der DDR an der Aufdeckung von Korruption und Machtmißbrauch beteiligt
Eine neue und diesmal ihren Namen verdienende Volkspolizei scheint im Entstehen. Ein Bürgerkomitee bewacht das kürzlich entdeckte Waffenlager des Herrn Schalck-Golodkowski, in Rostock und Leipzig verschaffte man sich Zutritt zu Stasi -Gebäuden, um zu verhindern, daß Akten beseitigt werden. Nicht nur die Regierung hat Angst, daß es zu Selbstjustiz kommt. Ein Aufruf prominenter DDR-BürgerInnen fordert mittlerweile, die Bürgerkomitees gesetzlich zu verankern, und die Regierung Modrow hat auch schon Untersuchungsausschüsse angekündigt, an denen die oppositionellen Gruppen und Parteien beteiligt sind.
Die Telefonnummer 2020 in Ost-Berlin meldet einen „Besetzt„ -Dauerton. Wer endlich Anschluß bekommt, erhält die Auskunft: „Keine freien Leitungen mehr, Sie müssen mit einer einstündigen Wartezeit rechnen, aber bitte bleiben Sie am Apparat.“ Die 2020 beim SED-Arbeitsausschuß im ZK-Gebäude ist derzeit wohl die meistgewählte Nummer im Land. Seit Montag abend ist sie eine von zwei eigens eingerichteten Anlaufstellen, wo DDR-BürgerInnen „Fälle von Amtsmißbrauch, Korruption, Verbrechen und Verdunkelung krimineller Vorgänge“ melden können.
Gleichzeitig wird deutlich, daß bloße Telefonanrufe als Ventil für die Empörung und Wut der DDR-BürgerInnen über die Skandale der SED-Führung nicht ausreichen. In Schwerin kamen am Montag abend nach den Friedensgebeten in mehreren Kirchen 10.000 Menschen zusammen und zogen zum Bezirksamt für Nationale Sicherheit. Auf Transparenten forderten sie „korrupte Räuber hinter Gitter“, „Stasi, rück die Akten raus!“ In Ost-Berlin demonstrierten am Montag abend erstmals auch Volkspolizisten und Angehörige anderer Sicherheitsorgane gegen Amtsmißbrauch, Korruption und gegen die Beseitigung von Beweisen. In Erfurt stürmten nach Angaben der SED-Sprecherin Brigitte Zimmermann erzürnte Bürger die Zentrale des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, um den Abtransport von Akten und Devisen zu verhindern. In Rostock verschafften sich Einwohner der Stadt Zutritt zum Stasi-Gebäude, und auch bei der traditionellen Montagsdemonstration in Leipzig besetzte die Opposition den riesigen Stasi-Komplex (siehe unten).
Vor diesem Hintergrund haben jetzt prominente Persönlichkeiten der DDR zur Bildung von Bürgerkomitees aufgerufen, die die Beseitigung von Beweismaterial verhindern sollen. In einem in der Nacht zum Dienstag verabschiedeten Aufruf an Regierung und Volkskammer fordern die Unterzeichner unter anderem, Bürgerkomitees sollten Kontrollmaßnahmen wahrnehmen, Beweismaterial sichern und bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mitarbeiten (siehe Interview). Zu den Unterzeichnern dieses Aufrufes gehören neben dem Dresdener Bürgermeister Berghofer auch das Mitglied des SED-Arbeitsausschusses Gregor Gysi, die Schriftsteller Stefan Hermlin und Christoph Hein sowie Altbischof Albrecht Schönherr.
Auch das Neue Forum hat in einem Appell an die Regierung Modrow gefordert, „die Bürgerkontrolle in Wirtschaft und Staatsapparat zu unterstützen und Fluchtversuche belasteter oder verdächtiger Funktionäre zu unterbinden“. Gleichzeitig warnte das Neue Forum mit Blick auf die wachsende Empörung in der Bevölkerung: „Nach wie vor gilt: keine Gewalt!“
Zuvor schon hatte die provisorische SED-Führung die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Der Arbeitsausschuß der Partei warnte vor „Anarchie und Chaos im Land“ und forderte angesichts der gespannten Situation die Regierung auf, sich mit der Bitte um Gewaltlosigkeit an das Volk zu wenden. „Mit großer Sorge“, so heißt es in der Erklärung der SED-Führung, „nehmen wir zur Kenntnis, daß es Hinweise zur Selbstjustiz und zum gewaltsamen Eindringen in öffentliche Gebäude gibt“.
Die DDR-Regierung hat währenddessen eine gemeinsame Untersuchungskommission mit Vertretern der Oppositionsgruppen gebildet, um für die „schonungslose Aufdeckung jeglichen Amtsmißbrauchs und jeglicher Korruption“ zu sorgen. Wie dringend diese Untersuchungen sind, zeigten auch gestern die Nachrichten über neue Fälle von Vertuschungsmanövern. Nach einem „Hinweis aufmerksamer Bürger“, so die DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ gestern, haben Volkspolizei und Staatsanwaltschaft am Montag abend in Ost -Berlin eine solche Nacht-und-Nebel-Aktion verhindert. Im Berliner Haus der Elektrotechnik, wo die Stasi bislang Büros besaß, hatten offenbar mehrere Mitarbeiter des früheren Ministeriums für Staatssicherheit versucht, aus den eigens dafür verdunkelten Etagen Material herauszuschleppen. Die von Bürgern alarmierte Staatsanwaltschaft stellte daraufhin „erhebliche Summen“ an DDR-Mark und Devisen sowie Akten sicher. Das bei der Aktion gefundene Geld sollte „über eine Kontaktperson schwedischer Nationalität an Scheinfirmen weitergeleitet werden“, die in Verbindung mit dem gesuchten DDR-Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski gebracht werden.
In den Etagen des ehemaligen Stasi-Gebäudes fand die Staatsanwaltschaft darüber hinaus zum Abtransport vorbereitete Aktenstapel mit Stasi-Unterlagen über DDR -Bürger aus den Jahren 1980-86. Ein Mann soll bei der Aktion versucht haben, mit zwei großen Koffern aus dem Nebeneingang des Gebäudes zu entkommen, war dann jedoch von Bürgern mit Hilfe der Volkspolizei daran gehindert worden. Mit besonderer Empörung berichtete der leitende Staatsanwalt Rainer Glawe gestern, daß der diensthabende Beamte im Volkspolizeipräsidium einen der Festgenommenen zunächst wieder freilassen wollte, obwohl Verdachtsmomente vorlagen.
Der DDR-Rundfunk zitierte einen ehemaligen Stasi -Mitarbeiter mit den Worten, es werde „massenweise Material verheizt“. Währenddessen dementierte die Sprecherin des SED -Arbeitsausschusses Brigitte Zimmermann Berichte, wonach Akten aus dem Haus des SED-Zentralkomitees zum Flughafen Schönefeld geschafft worden seien. „Ich bin ermächtigt zu erklären, daß aus dem ZK nichts herausgetragen wurde“, versicherte Frau Zimmermann. Für Aufregung sorgte am späten Montag ein weiterer, spektakulärer Devisenfund der Kriminalpolizei: Im Panzerschrank des DDR -Gewerkschaftsbundes FDGB wurden runde zwei Millionen West -Mark sichergestellt, die nun der Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Die Mittel seien, so hieß es gestern, für den Kauf von Klebebindern für den Gewerkschaftsverlag Tribüne bestimmt gewesen. Der Vertrag über den Kauf des Klebers sollte am heutigen Mittwoch mit einer BRD-Firma abgeschlossen werden.
Vera Gaserow
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen