: Ein Silberstreifen am Horizont
Die erste Runde des SED-Parteitages ■ K O M M E N T A R
Die SED mußte mit diesem Parteitag einen Spagat zwischen radikaler Veränderung und Verhinderung der Selbstauflösung machen und zugleich auch noch dieses schwierige Manöver als glaubwürdig verkaufen. Der vollständige Zerfall oder zumindest die Spaltung war in dieser Nacht näher, als es am folgenden Morgen schien. Da die Vertreter des Herrschaftsapparates innerhalb der Partei in Sprachlosigkeit versunken sind, wurde der Konflikt um den Bruch mit der Vergangenheit mit um so größerer Verbissenheit auf einem an sich zweitrangigen Nebenschauplatz ausgetragen: Zum Dollpunkt wurde die Frage, ob die Partei einen neuen Namen bekommen soll oder nicht. Weit deutlicher als im Plenum gerieten die Delegierten darüber in den Wandelgängen der Dynamo-Sporthalle aneinander: War den einen ein neuer Name bloßer „Etikettenschwindel“, der für sie gerade ein Grund wäre, die Partei zu verlassen, so war er für die anderen der Lackmustest für die Bereitschaft zum Bruch mit stalinistischen Strukturen, ohne den sie nicht länger bereit wären, mitzumachen. Die ersteren hatten in diesem Punkt die besseren Argumente und setzten sich dennoch für die falsche Sache ein. Daß sich ein knappes Viertel der Delegierten unter ihnen Egon Krenz - für die Beibehaltung des negativ besetzten Markenzeichens „SED“ aussprach, dürfte die tatsächlichen Kräfteverhältnisse auf dem Parteitag besser widerspiegeln als etwa das 95prozentige Wahlergebnis für den Reformer Gysi.
Seine Wahl in das neu geschaffene Amt eines Parteivorsitzenden war die intelligenteste aller denkbaren Antworten auf die Frage, wie die Entschlossenheit zu einer grundsätzlichen Wende ohne totalen Identitätsverlust zu demonstrieren sei. Doch dieser Gregor Gysi ist glaubwürdiger als die Partei, die zu repräsentieren er sich anschickt. Er allein wird die SED nicht retten können. Voraussetzung dafür ist, daß die Unumkehrbarkeit ihres Wandlungsprozesses der Gesellschaft glaubhaft gemacht und daß ihre Mitglieder neu ermutigt werden. Der Bruch mit den Kerndogmen des Stalinismus ist für die Partei als Institution vollzogen, vielen ihrer Mitglieder stehen freilich noch schmerzhafte Umlernprozesse bevor. Die Mythen von dem „Verrat“ der alten Führung und der tugendhaften Frühphase der Partei, auf die man sich angeblich zurückbesinnen könnte, stecken noch in den meisten Köpfen. Die Zerstörung der stalinistischen Machtstrukturen ist vorangetrieben worden: Mit der - vorerst nur propagierten - Auflösung auch der Nachfolgeorganisation der „Stasi“ und der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ werden Instrumente der SED für den Bürgerkrieg entwaffnet. Die Auflösung des monopolistischen Zugriffs dieser Partei auf das Offizierskorps von Armee und Polizei werden nächste Schritte sein müssen. Erst wenn diese Partei tatsächlich nicht mehr umkehren kann, wird man ihr die Umkehr auch glauben.
Die vier Jahrzehnte monopolistischen Machtmißbrauchs werden so schnell nicht vergessen sein. Die Parteimitglieder werden weiter mit dem Mißtrauen in ihrer Umgebung leben müssen. Ob sie durch diesen ersten Tag Vertrauen zu sich selbst zurückgewonnen haben, wird davon abhängen, ob sie diese Wende tatsächlich gewollt haben. Sie sind zu ihr durch die Krise und durch „die Straße“ gedrängt worden. Aber dieser Druck traf auf eine Menge von Parteimitgliedern, die das alte Regime und das alte Lügen ebenso leid waren wie ihre Mitbürger. Der bisherige Verlauf des Parteitages mag ihnen zumindest das Gefühl gegeben haben, daß es Sinn hat, weiterzumachen. Das wäre angesichts der herrschenden Frustration schon eine ganze Menge, doch auch das wird vor allem davon abhängen, wie die Grundorganisationen der Partei in dieser Woche über den Parteitag diskutieren werden. Die Ex-SED hat jetzt wieder eine artikulationsfähige Spitze, davon, auch wieder eine handlungsfähige Partei zu werden, ist sie noch weit entfernt. Immerhin - ein Anfang ist gemacht. Die Oppositionsparteien in der DDR sollten sich auf einen Zuwachs an Konkurrenz zumindest schon einmal einstellen. Denn falls es der SED gelingt, Umstrukturierung und programmatische Umorientierung konsequent fortzusetzen, würde daraus eine Partei mit einem Potential an Mitgliedern, an Wissen und Erfahrung hervorgehen, die nicht ignorieren kann, wer eine demokratisch-sozialistische Erneuerung der DDR anstrebt.
Walter Süß
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