: Renovierung oder Reanimation
■ Das Musiktheater der achtziger Jahre: Hoch-Zeit der Opernregisseure
Frieder Reininghaus
Zu den erstaunlichsten Entwicklungen des Kulturlebens in den letzten Jahren gehört die Erholung der Oper, ihre Auferstehung vom Totenlager. Bemerkenswert ist nicht nur der wieder verstärkte Zulauf, den die Musiktheater verzeichnen können, und der Zuspruch, dessen sich Oper im Fernsehen erfreut. Das erstarkte Interesse hat Bevölkerungskreise erfaßt, in denen vor 15 Jahren auch nur die Erwähnung eines Opernbesuchs Kopfschütteln, politische Polemik oder Heiterkeit auslöste. Das Rückzugsgebiet einer historischen Kunstform erscheint längst im milderen Licht eines neuen Einverständnisses mit den Hauptströmungen der Kulturgeschichte. So manchem bietet der Opernbesuch Zuflucht von der Unbill des Alltags, mancher gar gewährt das Opernglück die Illusion der Teilhabe an der „ewigen fremden Hochzeit für alle“ (die auch einen guten Teil der Auflagen des 'Goldenen Blattes‘, von 'Bild der Frau‘ und 'Grüner Post‘ begründet). Die Zuschauerzahlen haben sich, im Vergleich zum Sprechtheater, gut behauptet (und die Veranstaltungen des Musik- und Tanztheaters ziehen mehr Fans an als die erste und zweite Fußball-Bundesliga zusammen).
Auch im westlichen Ausland hat der Opernbetrieb wieder festeren Tritt gefaßt: die Holländer bekamen in Amsterdam 1986 endlich ein richtiges Musiktheater mit kontinuierlicher Bespielung; in Brüssel nahm das Theatre de la Monnaie einen international beachteten Aufschwung, und in ganz Belgien steht die Reorganisation, Effektivierung und Niveauhebung der Theater an. Durch die Errichtung der Bastille-Oper setzte Paris das sichtbarste Zeichen für eine neue Opern-Ära - eine monströse Volksoper mit avancierter Technik und voraussichtlich recht konservativer Programmgestaltung soll Hunderttausenden von Besuchern den Feierabend gestalten. Gestützt auf seine Sponsoren erlebte das britische Opernwesen einen dritten Frühling; selbst in der Kronkolonie Hongkong prunkt nun repräsentative Oper im eben eingeweihten Neubau.
Bemerkenswert ist auch die Resistenz der immer gleichen „beliebten“ Opern und der Zustrom des Neuen, den das Musiktheater in den achtziger Jahren durch die Kunst des Inszenierens erhielt - ein Metier, das weit über die zuvor gekannten Möglichkeiten hinausgriff: An den Herausforderungen durch Film und Fernsehen wuchs es, vollzog jenen Akt des „Aufsprengens“ spektakulär an einzelnen Werken, den ein bekannter Komponist und Dirigent Ende der sechziger Jahre der Oper als Institution angedeihen lassen wollte. Nach der Vorherrschaft der Primi uomini und der Primadonnen, nach dem Siegeszug der Komponistennamen im Opernbetrieb und nach der Ära der großen Dirigenten etablierten sich Regie und Ausstattung als dominante Faktoren des Musiktheaters. Die Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner erwiesen sich als die Medizinmänner dieses Kultursektors. Eine neue Demarkationslinie
Schon im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts hatte die Oper bedenkliche Formen der Vergreisung gezeigt. Die Komponisten, die aus dem Windschatten Richard Wagners nicht (oder zu wenig) heraustreten wollten und konnten, koppelten sich vom fortschreitenden musikalischen Bewußtsein ebenso ab wie vom modernen gesellschaftlichen Leben (in dem der Film bereits wesentliche Funktionen des frühen Musiktheaters übernommen hatte, zuvorderst die des Entertainments). In altmeisterlicher Manier wurden Werke wie Palestrina, Arabella oder Mathis der Maler gegen die abgefahrenen Züge der Zeit gesetzt. Die Aufführungspraxis der Opernhäuser geriet schon in den zwanziger Jahren weithin in heillose Kontraste zum gesellschaftlichen Kontext. Die Bruchlinien konnten in Deutschland nach 1933 auch gewaltsam nicht geflickt werden (trotz restaurativer „Betreuung“ und der „Säuberung“ des Musikbetriebs). Als nach 1945 das Musikleben wieder auferstand aus Ruinen, stellten sich sogleich (und ungeachtet der verschiedenen Modernisierungsbestrebungen) die Mangelerscheinungen und Widersprüche neuerlich ein.
Das förderte die Meinung, das Zeitalter der Oper sei passe: das Sprechtheater wußte sich den Herausforderungen der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu stellen; die moderne Malerei opponierte gegen den Mief der Adenauer-Ära und fand breitere Käuferschichten; Film und Fernsehen emanzipierten sich unterm Druck der amerikanischen Freunde; die neuen Töne der Musik kamen von außen und unten, entstanden keineswegs im Rahmen einer Opernreform - gerade auch die Neue Musik entwickelte ihre Verfahrensweisen und Formen außerhalb des Musiktheaterbetriebs. Die Kunstform Oper wurde museal, schien verbannt unter die Spezialitäten, bis sich das Verständnis von den Möglichkeiten der Museen neu definierte und die Auseinandersetzung mit den Spezialitäten einen ungeahnt frischen Reiz gewann.
Das ist nicht zuletzt der Besinnung auf die der Kunstform Oper von Anfang an innewohnende Brüchigkeit zuzuschreiben. Anders als das Drama, das im 20.Jahrhundert am Zerfall des Dialogs laboriert, basierte die Oper von ihren Anfängen im späten 16.Jahrhundert an auf Montage und Synthese; konstitutiv war das Zusammenspiel von (stets erkennbar stilisierten) Texten, musikalischem Gemisch (Recitativ, Arie, Ensemble, Chor und Leihgaben der „autonomen“ Instrumentalwerke) und dem Affekt der Bilder. Das distanzierende „epische“ Moment, von Brecht „Verfremdungseffekt“ genannt, wurde dem abendländischen Musiktheater in die Wiege gelegt. Es hat sich über die Ansprüche von bürgerlichem Realismus, Verismo und sozialistisch-realistischen Begradigungsabsichten hinweg behauptet. Montage der Szenen, Sprünge durch Räume und Zeiten, maßlos gedehnter Augenblick, laut werdende Seelenregung, Grenzüberschreitungen der abenteuerlichsten Art und unwahrscheinliche Rettungskonzepte sind opernspezifisch. Die Stücke, die alles haben, was eine Oper braucht, sind allemal Machwerke. Die musikalische Schaubühne kann auch in den erhabensten, intensitätsreichsten, heiligsten Augenblicken diesen ordinären Umstand nicht kaschieren.
Indem die Nüchternheit in das Denken der Zuschauer einkehrte, Skepsis gegen Überhöhungen und veränderte Sichtweisen (gespeist von der Produktästhetik des Alltags) wuchsen, kam die Ära der Regisseure, die Oper nicht mehr fortgesetzt in die Mäntel der Konvention hüllten. Da diese Theatermacher vielfach nicht mit blindem Mutwillen zu Werk gingen, sondern immanente Potentiale der Opern reflektierten und herausprozessierten, wurde das kulturkonservative Aufheulen leiser; anfängliches Befremden und heftige Ablehnungen wichen der Akzeptanz und der Bewunderung. Doch auch die Gegenbewegung ist in den achtziger Jahren zu verspüren: die Kultivierung (oder sogar Restauration) der maroden Stadttheater-Pracht mit ihrer idyllisierenden Bilderstereotypie, den lächerlich volkstümelnden Chorszenen, dem „Troubadourbein“ und den vorm Souffleurkasten postierten Musiktruhen. Günther Schneider-Siemsen, der langjährige Ausstatter des Herrn Karajan, ist das prominenteste Fossil des schlechten Geschmacks im Opernbetrieb (vor einer Woche in Berlin wieder bei Samson und Dalila unter Beweis gestellt); aber auch andere Zeremonienmeister servieren unverdrossen ihren faulen Zauber des ambitioniert Abgeschmackten. Zwischen den Kostgängern des von Verwesungsgeruch überlagerten Traditionalismus und den Freunden bzw. Betreibern eines musikalischen Theaters als immer wieder aktualisierter und historisch ernst genommener Kunstform ist eine deutliche Demarkationslinie aufgebrochen.
Das Neue am Theater kommt maßgeblich durch neue Stücke. Auch das Musiktheater der achtziger Jahre war an Ur- und Erstaufführungen nicht arm. Doch konnten selbst die avanciertesten Werke nicht annähernd die Innovationskraft entwickeln, welche die Neuinterpretationen der Repertoire -Stücke mit sich brachten; wobei gewiß die elaboriertesten Regie-Modelle auch den zeitgenössischen Produktionen zugute kamen und umgekehrt die radikalen Reduktionen, das Fragmentarische und der Montagecharakter neuer Kompositionen auf die Inszenierungsmöglichkeiten zurückwirkte. Als wichtigste Anregungen seien hier nur Mauricio Kagels Aus Deutschland (Berlin 1981), Wolfgang Rihms Hamletmaschine (Mannheim 1987), Europeras von John Cage (Frankfurt 1987) und York Höllers Der Meister und Margarita (Paris 1989) genannt, aber auch die grundsätzlich anders strukturierten Kontemplationsstücke von Philip Glass: Einstein on the Beach (Avignon 1976), Satyagraha (Rotterdam 1980), Echnaton (Stuttgart 1984).
Die Verweser des Opern-Traditionalismus hielten sich wohl nicht zufällig auch von dieser Sphäre der Belebung fern und überließen häufig Schauspielregisseuren das Feld, die dann mitunter an der musikalischen Herausforderung scheiterten (wie Werner Schröter im Frühjahr 1989 mit Klaus Hubers Anti -Wagner-Projekt spes contra spem). Die überwiegende Mehrzahl der uraufgeführten Musiktheaterstücke schlug sich in hohem Maß mit geschichtlichen Erblasten herum - denen der politischen, der Literatur-, Musik- und Ideengeschichte. Deutlicher als alle anderen Dimensionen der Oper zeigte die optische den Willen zur Rundumerneuerung: Historie ist, gerade auch für das Musiktheater, nicht länger nur ein unerschöpflich erscheinendes Reservoir für das Vorführen von Größe und Verhängnis, Glück und Verderben, Liebe, Wahnsinn und Tod - und bei alledem vor allem von Geschöntem. Es geht zugleich um ein gewaltiges Potential von Schrecken, von Scheußlichem und von Gemeinheiten, von Dummheit und Leere, dem sich die Inszenierungen zu stellen haben. Die Wucht der Bilder
und Symbole
Nachhaltig in Erinnerung bleiben könnten aus den letzten Jahren die Theaterkonstellationen Herbert Wernickes, der sich freilich zu oft in die Idee von Theater auf dem Theater (auf dem Theater) verbeißt. Elegant realisierte sich das 1986 am Musiktheater im Revier bei Monteverdis Krönung der Poppea: wie von einer durchreisenden Komödianten-Truppe zum Sparpreis in das (von Sparpolitik ausgelaugte) Theater bugisert. In Berlin ging's gründlich daneben. Dort zeigte Wernicke Carl Maria von Webers Oberon in einer Stadttheaterkulisse von 1826 - alles wie aus der Perspektive der Bühnenarbeiter. Von hinten wurde das desolate Spätwerk Webers jedoch auch nicht plausibler als von vorn, was ja hier hinten war. Auf faszinierende Weise gelang der auch schon 1981 bei Lullys Alceste erprobte Kunstgriff dann wieder im vergangenen Winter bei der Wiederbelebung von Agostino Steffanis Enrico Leone in Hannover. Zum 300.Jahrestag der Eröffnung des ersten Opernhaues an der Leine wurde das damals uraufgeführte Huldigungswerk Heinrich der Löwe von Wernicke aufbereitet, eine heroische Oper mit Einsprengseln des venezianischen Karnevals. Der Regisseur spaltete die Person des legendären Herzogs in Heinrich, den kläglich heldischen Feldherrn, und Leone, einen Zirkuslöwen, der als Conferencier (mit der originalen Übersetzung von 1689) durch die krause Handlung, in diverse groteske Situationen und zur Parodie auf einen Staatsakt von 1989 führt. Durch die Zerlegung des einst zum gegebenen Anlaß zusammenmontierten Werks in seine Einzelbestandteile, durch die liebevolle Behandlung des geschickt Isolierten und die neue Montage für den heutigen Zweck wurde der barocke Schwulst erträglich, zugleich ein entlarvender Einblick in den Funktionsmechanismus heroischer Kunst gewahrt (auf der Bühne, nicht im Programmheft).
Auch die Bilder, die Wernicke in den letzten Jahren verschiedenen extremen Zwangssituationen des Musiktheaters zugesellte, dürften im Gedächtnis haften bleiben: der Hammer Gottes, den er in Kassel 1987 über Bach-Kantaten schweben und auf die auswegslos ausgelieferten Gläubigen heruntersausen ließ; die neurotische Elektra (Franfkurt 1988); der doppelte Durchgang durch Herzog Blaubarts Burg von Bela Bartok in Amsterdam - zwei unterschiedliche Lesarten eines Stückes an einem Abend, desen Musik in verschiedenen Bildern und Bewegungsabläufen wiederholt wurde; die Bildmetaphern für die nicht enden wollende Repression in Leos Janaceks Aus einem Totenhaus in Mannheim.
Solche stringenten optischen Lösungen entsprechen den besten Arbeiten Achim Freyers. Dessen in den siebziger Jahren in Köln entworfene Ausstattung für Alban Bergs Wozzeck, diese Gasse (Anordnung zu niedriger Türen in fahlem Weiß, die zur Seite kippt, wenn Wozzecks Welt aus den Fugen gerät) gehört bis heute zu den überzeugendsten Durchdringungen eins historischen Stoffes: weder wurde die Geschichte im Duodezfürstenmilieu des frühen 19.Jahrhunderts belassen, noch wurde so getan, als könnte dieser Wozzeck einfach einer von heute sein. 1980 gelang Freyer dann in Stuttgart jener ironisch gebrochene sentimentale Bilderbogen zu Webers Freischütz, dieses Virtuosenstück aus der Abraumhalde der Aufführungsgeschichte, das oft kopiert, aber selten eingeholt wurde. Mit seinem Philip-Glass-Zyklus schwenkte Freyer dann auf die von Robert Wilson eröffneten Möglichkeiten des Bilder-Bewegens zur Musik ein, ließ bei Einstein on the Beach (Ludwigsburg 1988) einen knapp fünfstündigen Zitaten-Reigen durch die neuere Kunstgeschichte Revue passieren: eine Schnitzeljagd durch „ein Land gelernter und ungelernter Sprache“.
Weit öffneten sich die Augen für neue Sehweisen durch Robert Wilsons Poesie der Bilder. Doch haben sich diese Mittel der Verrätselung inzwischen erheblich verbraucht. Die von Wilson arrangierte Arien-Folge, die zur Eröffnung der Pariser Bastille-Oper serviert wurde, ließ kaum mehr etwas vom Impetus verspüren, der zehn Jahre zuvor die Theatergänger aus dem Häuschen gebracht hatte: eine selbstgefällige Retropsektive, die vor allem die Kostüme der prominentesten Pariser Modehäuser zur Geltung brachte. Halluzinatorisches Traumtheater sollte auch die Uraufführung von Louis Andriessens sperrigem Historien-Stück De materie in Amsterdam werden, eine Oper über Schlüsselsituationen der niederländischen Geschichte; aber man kam dabei vor allem ins Nachdenken, wie sehr Wilsons Bilderreigen ein Reflex auf die Film-, TV- und Videosphäre ist, die mit ihren Mitteln das Wilsonsche Theatermachen nun wieder längst überholt hat. Das Spiel mit Symbolen, die nurmehr Form wurden, ist matt geworden.
Das Herausheben der Symbole war auch der Trumpf der Inszenierungsarbeiten von Ruth Berghaus: ihr Frankfurter Ring gilt bis heute als Modellfall einer theatralischen Chiffrensprache, die über der Absicht zur Verallgemeinerung (und zur Neutralisierung einiger Gerüche, die Richard Wagner und dessen Werk bis heute anhängen) doch die einzelnen Handlungen der singenden Personen nicht im Stich läßt, sondern auch dort minutiös choreographiert. Umstritten geblieben sind die meisten Operninszenierungen von Hans Neuenfels. Seine Aida zeigte 1981 in Frankfurt an, daß mit der „Ära Gielen“ auch irritierend moderne Lösungen auf der Bühne gesucht werden sollten. Beim Rigoletto (Berlin 1986) verselbständigten sich die Neuenfelsschen Assoziationen so weitgehend, daß auch Fanatiker des „Regietheaters“ Mühe hatten, den Fröschen zu folgen, die Gilda aus dem Einmachglas entführten; oder jenem finalen Geburtsvorgang, mit dem sich die tragische Heldin „durch den Penis des Vaters neu gebiert, indem sie die Männer dialektisch - durchstößt“. Auch bei der Pariser Uraufführung von York Höllers Bulgakow-Oper Der Meister und Margarita deutete sich an, wie sehr der psychoanalytisch vollgepropfte Kopf eines Regisseurs den Theater-Augen die Scheuklappen verpassen kann. Die Renovierung der Schauspoiel-Regisseure und die
Reansimation
Neben der Riege der anerkannten und bewährten Opernregisseure, die in aller Regel längst „ihr“ Opernhaus haben - August Everding und Harry Kupfer, Götz Friedrich und Joachim Herz, Kurt Horres und Michael Hampe, auch Hans Neugebauer und Johannes Schaaf gehören dazu - sind in den achtziger Jahren fast alle prominenten Schauspiel-Regisseure mit der Oper fremdgegangen oder zu neuer Liebe gekommen Neuenfels und Gosch, Heyme und Stein, Jürgen Flimm und Dario Fo, Michael Grüber, Peter Palizsch, Thomas Langhoff, Nils -Peter Rudolph, Dieter Dorn. Nur Peymann hielt sich konsequent bei den spröderen Formen des Sprechtheaters. Rudolph verlegte Mozarts Entführung aus dem Serail (Stuttgart 1987) in das zerbröselnde Ambiente der Hamburger Monarchie. Dorn führte den Figaro auf ein Kammerschauspiel mit trockener Musik zurück; seine umstrittene Inszenierung im Ludwigsburger Schloß kehrte die Ärmlichlkeit der von Liebe und Begierde befallenen Menschen hervor, schließlich das böse Erwachen nach dem „tollen Tag“ und seinen Verwirrungen. Goschs Frankfurter Figaro war mit dem Kürettieren der Mozart-Oper vorangegangen: Da zeigte sich im kahlen Guckkasten, wie explosiv die lange unterdrückten Gefühle sein können, wie den Mitgliedern der geschlossenen Gesellschaft die Angst im Nacken sitzt, wie die genaue Choreografie der Personen in diesem Schauspiel des abnippelnden Feudal-Absolutismus über die Entstehungszeit des Stückes hinaus Brisanz entwickeln kann (eben nicht durch Kulissenzauber und hold neutralisierte Anmut).
Besonders produktiv erwies sich in den letzten Jahren Günter Krämer, noch Schauspiel-Chef in Bremen und demnächst wohl Direktor des Kölner Schauspiels. In Westberlin inszenierte er Schostakowitschs Lady Macbeth, zunächst sehr flach und wie in einem finsteren Adventskalender; erst als der Weg der blutrünstigen Heldin in die Verbannung nach Sibirien, zur letzten Lust und zum Tod beginnt, öffnet sich der Blick auf die Weite des technisch-nüchternen Bühnenraums, erhielten die Figuren Raum für die verzweifelte Entfaltung. Kürzlich erst Krämers Freischütz in Ostberlin: aufbereitet unter dem Aspekt, daß nicht mehr von der Natur die Bedrohung für die Menschen ausgeht, sondern der Mensch den Menschen die Wolfsschlucht bereitet. In Hamburg ließ Krämer Franz Schrekers Schatzgräber (Sommer 1989) als Wintermärchen daherschneien und in einer Intensivstation fündig werden, nachdem er Schrekers Die Gezeichneten 1987 in Düsseldorf vor dem Hintergrund der Erinnerung an die Ausstellung über „entartete“ Kunst und Musik (1937) gezeigt hatte. In Düsseldorf rückte Krämer auch Erich Wolfgang Korngolds Tote Stadt in die Ausstattung eines Beerdigungsinstituts und steuerte mit den Symbolen, die er zu Verdis Macbeth setzte, hart am Skandal vorbei: Helikopter des Vietnam-Kriegs und der Aufmarsch traumatischer Mißgeburten durchstießen die kulinarischen Erwartungshaltungen. Zuletzt servierte Günter Krämer Pendereckis Teufel von Loudon, die plakativ-effektvolle Musik, der sechziger Jahre mit einer plakativ-effektvollen Bebilderung, die nun allerdings eine gewisse Monotonie des Zugriffs offenbarte, den dieser intensiv arbeitende Regisseur seinen Opernproduktionen angedeihen läßt.
Die Konkurrenz der optisch aktualisierenden Opernproduktionen ist, gerade in Nordrhein-Westfalen, erheblich. Eike Gramss gelang in Krefeld eine auch unter diesem Aspekt bemerkenswerte Judith, nachdem Harry Kupfer die Uraufführung dieser Siegfried Matthus-Oper 1985 in Ostberlin allzu holzschnittartig zubereitet hatte. In Krefeld und Mönchengladbach war Anfang der achtziger Jahre der unterm Aspekt der Naturaneignung und -zerstörung inszenierte Ring von John Dew und Gottfried Pilz zu sehen, der die plausibelste Alternative Chereaus Bayreuther Jahrhundert-Ring setzte. In Wuppertal verblüffte die, gleichfalls von Dew und Pilz kredenzte zirzensische Aufbereitung der Zauberflöte. Insbesondere aber das Bielefelder Modell erregte inzwischen weit über die Region hinaus Aufsehen. 1980 wurde Heinrich Marschners Vampyr ausgegraben, ein Jahr später der Der Templer und die Jüdin. (Mit Lortzings Revolutions- und Schreckensoper Regina wurde 1981 ein weiteres Werk aus dem bis dahin unterschätzten Opernfundus zwischen Rossini und Wagner reaktiviert.) Dew und Pilz realisierten in Bielefeld vergessene, verdrängte oder unterbewertete Stücke unter drei Gesichtspunkten. Sie interessierten sich für die Darstellung von Frauenbildern auf dem Musiktheater, machten sich um die Wiederentdeckung der problematischen „heroischen“ Opern verdient und suchten nach exemplarischen Zeitstücken, deren Traditionslinie 1933 abbrach. Mit wachsendem Erfolg sorgten sie für die Wiederaufführung von Max Brands Maschinist Hopkins, der unmittelbar vor der „Machtergreifung“ Hitlers die Probleme der Arbeitswelt und der Führerpersönlichkeiten verhandelt hatte; George Antheils Transatlantic wurde ebenso konsequent aktualisiert wie Hindemiths Neues vom Tage. Arrigo Boitos hybrider Nero wurde in Bielefeld erfolgreich wieder aufgeführt und Meyerbeers Prophet, der in der Hülle der alten Wiedertäufer-Geschichte die französischen Revolutionen des 19. jahrhunderts kritisierte. Weit weniger glückliche Hände hatte John Dew mit seinen Versuchen, neuere amerikanische Opern zuzuspitzen: Am ehesten gelang zuletzt John Adams Nixon in China und Bernsteins Ruh und Frieden, indem die Momente von Montage und Kolportage nicht wegretuschiert wurden (wie gründlich in Berlin Bernsteins Candide scheiterte, berichtete die taz). In Berlin aber durchbrachen Dew und Pilz auch den Bann, der seit 1932 über Meyerbeers Hugenotten lag: Diese Inszenierung wurde zur herausforderndsten und herausragendsten Inszenierung der Deutschen Oper in den letzten Jahren. Gerade aber auch die Bemühung um die Frauenbilder der Oper zeichnet die Zusammenarbeit von John Dew uind Gottfried Pilz aus: Halevys lange nicht mehr gespielte Jüdin, Modell der heroischen Oper, wurde in Bielefeld wiederaufgeführt, die Frau ohne Schatten von Richard Strauss einer verblüffenden Interpretation unterzogen, Rudi Stephans Erste Menschen und Fennimore und Gerda von Frederick Delius wieder für die Bühne entdeckt. Wie an keinem anderen Ort konnte im Bielefelder Stadttheater in den achtziger Jahren die Reanimation der Gattung Oper mit den Mitteln differenzierten Theatermachens auf einer großen dramaturgischen Linie beobachtet werden; wäre das Musiktheater nicht zu solchen Leistungen fähig gewesen, würde die neue Attraktivität dieser Kunstform auch für die ästhetisch Anspruchsvollen kaum begreiflich.
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