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"Unser System ist genau so ehrenhaft wie Eures"

■ Eine "ganz normale" Familie in Neapel / Der Zwang zur Delinquenz und die Kunst des Überlebens / Auswanderung in den "neuen Osten" als Alternative? / "Nach dem Gesetz sind wir alle..."

Der Vico Ficurella gehört zu jenen Gassen im unentwirrbaren Netz des „Spanischen Quartiers“ von Neapel, bei denen man nie weiß, ob man nicht plötzlich vor einer mannshohen Mauer steht: Die Stadt hat zum Schutz vor den dreirädrigen Motorette und 500er Fiats, die vorher durch die ohnehin total zugeparkten, meist nur vier Meter breiten Sträßchen gerattert sind, manchmal sogar die Treppen herunter, breite Kratzspuren an Mauerwerk und Fußgängern hinterließen, in den sechziger Jahren zwei Drittel der Gassen am Anfang oder am Ende zubetonieren lassen. Nur enge Durchschlüpfe sind am Ende der Gassen geblieben. Der Tourist, der die Gegend wegen der vom Reiseführer geschilderten „pittoresken Winkel“ aufsucht, hält in der Regel seine Handtasche oder seinen Fotoapparat eng an sich gepreßt - ungebrochen (und auch nicht unverdient) die Fama der scippatori, der Straßenräuber speziell am Nordrand des Quartiers, wo die Straßenzüge der „Spaccanapoli“ die Stadt in zwei Teile zerlegt. Die Lokale hier haben meist keinen Namen: Wer nach einer Eßgelegenheit fragt, wird zu „Peppino“ oder „'O Franto“ geschickt. Schwere, meist ramponierte Eisengitter und Rolläden künden von den Sicherheitsvorkehrungen der Geschäftsleute. Aus den winzigen Kammern im Parterre blöken Tag und Nacht die Fernsehapparate, Kinder sind noch weit nach Mitternacht auf der Straße, die Alten ziehen sich gegen elf zurück.

Mein Besuch gilt einem jungen Mann namens Fulvio, den ich vor eineinhalb Jahren beim Warten auf das Schiff Neapel -Palermo kennengelernt habe: In einem Lokal war er. Während des Fußballspiels Italien/UdSSR. Zu uns an den Tisch gekommen, hakenkreuzgarniert vom Ohr bis zu den Stiefeln. Der Wirt signalisierte uns hinter seinem Rücken mit einem Zeichen: „Paßt auf, der spinnt, ist aber harmlos.“ „Die da“

-Fulvio meinte die Russen auf dem Bildschirm - „die müssen wir kleinkriegen: Und das geht nur, wenn Deutschland wieder groß wird - denn dann wird auch Italien wieder groß. Schau: Cäsar hatte erst ein Fundament für unser Weltreich, als er Germanien besaß, die Franken konnten ihr Weltreich erst bauen, als sie Rom hatten, Hitler und Mussolini waren wie Zwillinge...“

Nun, Ende 1989, da der „Bolschewismus zusammengebrochen ist“, sagt er mir in einem dringenden Anruf, hat er umgedacht: „Eigentlich enorm, daß die aus sich heraus die Bolschewiken zum Teufel gejagt haben“, und darum brauche er meine Hilfe: „Ich möchte hin zu denen im Osten, da ist wirklich was los, das muß ich sehen, wenigstens für ein paar Monate.“ Er kennt das Heimweh aus einem Zweijahresaufenthalt bei den Rassisten in Südafrika. Doch unverständlicherweise verweigern ihm die Behörden der Ost-Staaten, speziell die DDR, die Einreise - „obwohl sie sie sonst jedem geben: sogar meinem eigenen Bruder, nur weil der mal, vor Jahren, Kommunist war“. Tatsächlich sind bereits mehr als zweihundert (von gut tausend) Gesuchen aus Neapel auf Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis dort erteilt worden, und der Dezernent für Arbeit der Region Campania schwärmt schon von einer - angesichts von mehr als 160.000 Arbeitslosen unter den eineinviertel Millionen Einwohnern allerdings nur schwer erkennbaren - „Entlastung des Drucks auf dem Arbeitsmarkt durch Auswanderung in den Ostblock“. Den Verdacht, daß auch er nur wegen seiner schon drei Jahre dauernden Arbeitsflaute in den Osten will, läßt Fulvio nicht gelten: Er hält sich für einen Idealisten in Reinkultur. „Natürlich will er nur ins Ausland, um zu arbeiten“, sagt seine Mutter Adriana und streicht ihm mit ihren abgearbeiteten Händen über die Haare, „er ist ein guter Junge, und das mit Mussolini haben sie ihm voriges Jahr nur eingeredet, indem sie ihm Arbeit versprochen haben. Von Politik hat er keine Ahnung.“

Das muß auch so sein: Schließlich kann Fulvio sich nicht zum Antipoden seines Vaters selig entwickeln, der vor vier Jahren von einem Camorra-Kommando schwer verletzt wurde (und an den Spätfolgen daran gestorben ist): Er hatte nach der Entlassung eines Kollegen einen Streik gegen die Baufirma organisiert, bei der er zehn Jahre beschäftigt war. „Dabei hat er das nicht einmal aus politischen Motiven getan“, sagt Adriana und wischt sich die Tränen ab, „sondern weil er Ungerechtigkeit und Ungesetzlichkeit nicht ertragen konnte.“

Ingiustizia und illegittimita - das sind die am häufigsten gebrauchten Worte in der Familie. Ungerecht ist zum Beispiel, „daß das Wasser nur alle paar Tage hier ankommt, das Licht alle paar Stunden ausfällt. Kanalisation haben wir keine, die Schulen sind schlecht. Ungesetzlich ist“, Gennaro, der älteste Sohn, hält eine Ausgabe von 'Panorama‘ in die Höhe, „daß die Luft so verunreinigt ist, wie sonst in keiner anderen europäischen Stadt - und dafür bezahlen wir Unsummen von Steuern.“ Doch das mit den „Unsummen“ reduziert sich beträchtlich, nachdem Fulvio unbedacht die Bemerkung gemacht hat, „alleine von den Abgaben unserer Familie könnte man die halbe Stadt sanieren“ und ich aus Neugierde nachfrage, wieviel sie denn alle zusammen so monatlich an Steuern bezahlen: Gennaro, von der Ausbildung her Mathematiklehrer, rechnet und rechnet - am Ende kommen knappe 20.000 Lire, umgerechnet 28 D-Mark, für alle zusammen heraus, und das auch nur, weil vergangenes Jahr ein Finanzpolizist mit Anzeige gedroht hat, wenn nicht wenigstens ein Familienmitglied eine Steuererklärung abgibt.

Die Steuerhinterziehung fällt aber nun nicht unter den Begriff „ungesetzlich“. Denn, so begründen Gennaro, Fulvio und ihre sechs Geschwister die Enthaltsamkeit bei Zahlungen an den Staat, „wir würden schon bezahlen, aber das meiste, was wir machen, würden die da drüben“, er zeigt in eine Richtung, wo wahrscheinlich das Finanzamt liegt, „sofort denunzieren, weil es angeblich nicht legal ist.“

Da hat er wohl recht. Gennaro selbst, nach einem Jahr als precario (Teilzeitlehrer) wieder arbeitslos, verleiht am Molo Beverello gefälschte Autokennzeichen, das Paar zu 30.000 Lire: Während der Saison ist den Neapolitanern (nicht aber anderen Autofahrern) zwecks Verkehrsberuhigung die Mitnahme ihrer Kraftfahrzeuge auf die Insel Ischia versagt, und so sind die Kennzeichen aus Milano oder Roma sehr gefragt, um auf die Fähre zu dürfen: Man gibt sie auf der Insel wieder ab, bekommt die Kaution zurück und fährt dann mit dem Originalkennzeichen weiter. Das fällt nicht auf, weil die Einwohner der Insel ebenfalls „NA“ als Kennzeichen haben.

Gianni, 26, der zweitälteste Bruder, ist Autolackierer doch leider arbeitet er in einer Firma, die selbst nicht angemeldet ist, weil da „auch manches vielleicht“ vielleicht - „geklaute Auto dabeisein könnte“. Liliane - der Name stammt von einer amerikanischen Verwandten, die als Gegengabe für einige Geldsendungen Taufpatin wurde arbeitet „im Hafen“: Da kauft sie von US-Marines Zigarettenstangen und schmuggelt sie aus dem Zollgebiet heraus; die bietet dann ihr elfjähriger Sohn an der Via Sauro an. Berardo, 19, verhökert derzeit T-Shirts an der Tangenziale, der Umgehungsschnellstraße: weiße Hemden, diagonal mit einem handbreiten schwarzen Streifen versehen: Sie vermitteln bei flüchtigem Blick durch die Windschutzscheibe den Eindruck, man habe den Sicherheitsgurt angelegt. Das verhindert unangenehme Polizeikontrollen, denn seit April hat auch Italien Anschnallpflicht - und in Unteritalien haben die meisten noch nicht einmal Gurte in ihren Autos. Eine Verwarnung würde auf 20.000 Lire kommen, das T-Shirt kostet nur 10.000, 13 DM.

„Vorher hat er was anderes verkauft“, lacht Fulvio und haut sich vor Vergnügen auf die Schenkel, „unser Berry ist nämlich immer auf der Höhe der Zeit“: Für 30.000 Lire konnte man bei ihm ein sogenanntes „Aids-Selbstuntersuchungsset“ erwerben, das im wesentlichen aus einer Fußballpumpe mit Gummischlauch, einer Einwegspritze und einem in Apotheken kostenlos erhältlichen Streifen zur Urinzuckeruntersuchung bestand. Das Geschäft war zu Ende, als er einen Kasten unwissentlich an die soeben aus den USA eingeflogene Frau des Camorra-Zonenbosses verkauft und diese ihren Mann zur „Selbstuntersuchung“ gezwungen hatte: Der Nasenbeinbruch von der Abreibung ist in Berardos Gesicht noch immer deutlich zu sehen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit schwebt etwas sehr Junges, in schwarze Hosen und eine enge Bluse gezwängt, auf spitzen Stöckeln aus dem oberen Stock in den Wohnraum, grell geschminkt und mit einer Handtasche ausgerüstet, in der auf dem Buffet bereitgelegte Accessoires verschwinden: eine Art Lederpeitsche, einige Riemen, dazu, aus einer Dose im Schrank entnommen, eine kleine Pistole. „Das ist Luciano“, sagt die Mutter, und beim Abschiedskuß ist nicht die geringste Zurückhaltung zu entdecken, „paß auf, am Corso haben sie letzte Nacht zwei froci (Homosexuelle) halbtot gehauen, da sind wieder die bapponi (Zuhälter) von Secondigliano unterwegs.“

Luciano ist ein feminiello - ein Junge, der, wie in diesem Viertel keineswegs selten, das Nesthäkchen war, und immer mehr in eine weibliche Rolle hineinerzogen wurde. Früher wurden diese jungen Transvestiten oft als Köchin oder Putzfrau abgerichtet, manchmal auch als Gouvernante, wenn man das Geld für die Mittelschule aufbringen konnte: Oft blieben sie auch zu Hause und führten den anderen Geschwistern den Haushalt. Seit einigen Jahren hat nach Erkenntnissen der neapolitanischen Polizei „geradezu eine Welle von prostituiertem Transvestitentum eingesetzt“: Mehr als 15.000 Neapolitaner verdingen sich - außer den gut 10.000 vorwiegend aus Südamerika zugereisten Transvestiten auf dem Strich und machen so den angestammten Frauen mächtig Konkurrenz; es hat bereits zahlreiche böse Schlägereien zwischen den beiden Gruppen von Prostituierten gegeben. Derzeit sind die Transvestiten eindeutig gefragter als die Frauen.

Luciano mit seinen 15 Jahren ist der Großverdiener der Familie - er bringt an manchen Tagen eine halbe Million Lire (650 DM) nach Hause - und das, nachdem er mit den drei Kollegen geteilt hat, mit denen er ständig zusammen ist. Denn das Überlebensprinzip in der neapolitanischen Prostitution heißt: Niemals alleine in ein Auto steigen, in dem mehr als ein Mann sitzt.

Dazu hat es Luciano (wenigstens bisher) auch noch geschafft, ohne Drogenabhängigkeit zu arbeiten - den schlimmen Bericht von 'Il Venerd‘ über einen Zwölfjährigen namens Franco Cantore, der Nacht für Nacht mehr als zwei Dutzend Freier „verarbeitet“, dafür aber schon fünf bis sechs Heroinschüsse braucht, hat sich Luciano neben sein Bett gehängt: „Nicht nur, weil ich ihn kenne - er steht auch am Corso Umberto - sondern als Abschreckung.“ Da schwingt keine Eifersucht auf den derzeitigen Star der Trans -Prostituierten mit: Es ist die Angst vor einem solchen Leben. Luciano stöckelt hinaus; drei Häuser weiter holt er einen seiner Kollegen ab, der schon seit geraumer Zeit auf einem wackeligen Stuhl am Hauseingang gewartet hat. Über der Tür eine rote Lampe - der Freund empfängt auch bei Tag und zu Hause: „Das schaff‘ ich noch nicht“, sagt Mutter Adriana. Sie wäre froh, wenn ihr feminiello in einem circolo chiuso arbeiten könnte. Bordelle sind zwar verboten, aber die damit verbundene Kriminalisierung nähme sie in Kauf: „Da weiß man wenigstens, daß er morgen früh wieder nach Hause kommt, und wenn nicht, daß er allenfalls im Knast steckt.“

Gennaro bemerkt meinen Blick: „Ich weiß“, sagt er nachsichtig, „in deinen Augen sind wir alle Kriminelle. Nach dem bürgerlichen Strafgesetz sind wir es auch. Aber du hast keine Ahnung, was man hier in Neapel anstellen muß, um zu überleben. Das hier ist ein eigenes Rechtssystem, genauso klar und konsequent und, nimm's nicht übel, so ehrenhaft wie das, nach dem du lebst, nur anders - und glaub mir, man kann damit genauso zurechtkommen wie ihr.“

Aber wer erlegt dieses System auf?

Die Antwort gibt, wenigstens ansatzweise, ein Vetter von Frau Adriana, der am Abend vorbeischaut und sich einige Gläser eingemachter Auberginen und eine Kiste Oliven abholt: eine Art Naturalienhonorar für das Heraushauen Lucianos aus dem letzten Polizeigewahrsam. Ciro ist Rechtsanwalt, „eines der Asse in Strafsachen“, sagt Fulvio: Gennaro, der Mathematiker, hätte „um ein Haar aus Bewunderung für „zio Ciro“ auch Jura studiert - „und wahrscheinlich stünde ich dann besser da als jetzt“. Onkel Ciro jedenfalls steuert einen Fiat 164, das Luxusmodell, und verteidigt derzeit einen ganzen Schwung von Camorristen. „Ich selber bin kein Camorrist“, sagt er sanft und blickt mir gerade in die Augen, „aber wenn du hier als Anwalt arbeiten willst, mußt du deine Klientel auch von denen akzeptieren - in vielen Vierteln geschieht faktisch nichts, wo die nicht ihre Finger drin haben.“

Also erlegen die camorristischen Banden den Neapolitanern ihre Gesetze auf?

„Nein. Diese Gesetze bilden sich aus den Umständen heraus, in denen diese Stadt lebt, in einer unaufhörlichen Dialektik von Armut, Korruption, überkommenen Treue- und Abhängigkeitsverhältnissen, von gewolltem Verfall der Einrichtungen und Versagen auch gutwilliger Reformer und Helfer. Camorra-Banden mischen im allgemeinen Morast mit, kommen hie und da an die Oberfläche, schneiden sich ihre Scheiben ab, bekriegen einander bis zum Mord: Und doch ist das nur ein winziger Teil der alltäglichen Misere in dieser Stadt.“

Also sind es die staatlichen Organe, die versagen?

„So einfach kann man das auch nicht sagen. Die Neapolitaner sind von Natur, besser gesagt, aus verständlicher Tradition heraus, unheimlich mißtrauisch gegen alles, was der Staat macht; und oft kämpfen sie auch gegen das, was gut für sie wäre, nur weil sie kein Vertrauen zu Regierungsbeschlüssen haben.“

Woher das Mißtrauen?

„Sie haben den Staat, ähnlich wie übrigens auch die Sizilianer, immer nur als Besatzung erlebt: Den Griechen folgten die Römer, dann die Germanen, die Araber, die Bourbonen bis hin zu den Savoyern nach der Reichseinigung im vorigen Jahrhundert. Sie haben immer nur wenige Jahrzehnte wirklich autonomer Entwicklung erlebt. Der Rest war Ausbeutung und Unterdrückung. Und so sehen sie auch heute noch, vielleicht zu Unrecht, aber dennoch unausrottbar, den Staat als ferne, unkalkulierbare Macht, die ihnen unverständliche Auflagen macht und Vorschriften verkündet, deren Sinn sie nicht einsehen. Er verlangt zum Beispiel von ihnen, in der Schule klassisches Italienisch zu sprechen und selbst in winzigen Geschäften eine Ladenkasse mit doppelter Kontenführung einzurichten, die mehr kostet als zwei ganze Jahresverdienste...“

Aber das verlangt der Staat doch auch im Norden?

„Ja - aber die Leute dort sprechen schon zu Hause gutes Italienisch, wir hier statt dessen Dialekt; die Ladenkassen standen, schon weil es dort mehr Umsatz gibt, dort längst, als sie auch für unsere armen Schlucker hier verbindlich wurden. Was an sich zur Steuergerechtigkeit führen sollte, wurde zur Pleite von Tausenden von Familienbetrieben.“

Das Mißtrauen wohnt freilich nicht nur bei den Armen: „Derart, daß sich bei Verabschiedung eines Gesetzes, gleich auf welchem Gebiet, sofort ein Heer meiner Kollegen hier daransetzt - und nicht etwa nachsieht, wie man das Gesetz anwenden muß, sondern um herauszufinden, wo eventuell irgendwelche Lücken sind: Die Umgehung der Gesetze ist hier fast tägliche Routine.“

Seine eigene Kunst auf diesem Gebiet kann ich am Tag danach während eines Prozesses studieren: Ciro verteidigt zwei Burschen von 17 und 19 Jahren, die bei einem Handtaschenraub erwischt wurden - unglücklicherweise hatten sie sich die Frau eines Polizeifeldwebels ausgesucht, und der hatte die beiden gestellt. Die Verhandlung gegen die beiden scippatori gerät mitunter in gewisse Nähe zum Königlich-Bayerischen Amtsgericht: Ja, wenn wir gewußt hätten, daß das die Frau eines Polizisten ist..., verteidigen sich die beiden Burschen; ein halbes dutzendmal entschuldigen sie sich untertänigst bei der bella signorina, die ob der verjüngenden Komplimente zusehends freundlicher wird. Und als ob Straßenraub, wenn nicht gegen Polizistenfrauen begangen, ansonsten absolut in Ordnung wäre, verkauft der avvocato Ciro dem Gericht die Entschuldigungen bei der Signorina als „Einsicht“ der Jungen, die sogar einen Freispruch rechtfertigen könnte... Zumal - Fortsetzung des k.-b. Amtsgerichts - auch dem Polizisten sein Eingreifen fast peinlich ist: Es hat sich herausgestellt, daß die beiden Jungen aus bekannten Kaufmannsfamilien am Hafen stammen. „Wenn ich das gewußt hätte“, kratzt er genau wie die Delinquenten die Kurve, „hätte ich natürlich erst einmal mit den Eltern gesprochen.“

Ciro erkennt daraufhin in dem Ordnungshüter „einen wahren Menschen“ und verspricht, sein „vorbildliches Verhalten“ seinen Vorgesetzten zur Kenntnis zu bringen. Ergebnis: zwei Monate mit Bewährung. In stillschweigendem Einvernehmen werden drei bereits früher ausgesprochene und somit längst verwirkte Bewährungen vom Gericht ignoriert. „Typisch für scippatori aus dem Mittelstand“, sagt Ciro, als er mich gegen ein Uhr wieder zur Wohnung seiner Verwandten bringt, „die sind zu dumm zum Klauen und lassen sich immer wieder erwischen. Am besten, sie würden mit solchen Sachen einfach aufhören.“ Keine schlechte Idee; aber Ciro dämpft meinen Enthusiasmus dafür sofort: „Ihnen davon abzuraten, ist leichter unter uns beiden gesagt als ihnen gegenüber getan. Wie soll ich denn jungen Leuten irgendeinen Respekt vor dem Gesetz beibringen, wenn sie sehen, daß nirgendwo um sie herum das Gesetz respektiert wird? Ihre Eltern, Verwandten und Nachbarn hinterziehen ganz selbstverständlich die Steuern, schalten Konkurrenten notfalls auch mit unlauteren Mitteln aus und rühmen sich anschließend ihrer Schlitzohrigkeit beim Übertreten von Gesetzen. Und die Jugendlichen beobachten - das ist besonders schlimm - das gleiche auch noch gerade bei denen, die die Vorschriften fabrizieren. Schau den Verkehr hier ringsum an, die Luftverpestung, den Mangel an funktionierender Infrastruktur, trotz immer neuer Milliarden, die das angeblich alles beheben sollen.“

In der Tat ist der Smog durch die Autoabgase und die Stickoxide, die von den Ölraffinerien am Fuß des Vesuv bis in das höhergelegene spanische Quartier hochwabern, so dicht, daß man schon nach vier- bis fünfhundert Metern die Sicht auf die Schiffe im Hafen verliert und die Burganlage von Castel S. Elmo nur noch schemenhaft erkennt. Der Corso Umberto ist völlig verstopft - die Stadtpolizisten haben längst resigniert und schauen zu, wie Taxis von der falschen Seite in die Einbahnstraßen fahren, Autos auf dem Bürgersteig parken und die Fußgänger so auf die Straße getrieben werden - „es läuft so immer noch am besten“, sagt mir ein weißbehelmter Vigile achselzuckend.

Wo Straßen breit sind, parken die Autos auch noch in der Fahrbahnmitte - in ganz Neapel gibt es gerade zwei große und ein halbes Dutzend kleinerer Parkhäuser, die oft in alte Werkstätten eingebauten Garagen sind stets überfüllt. Auch Ciro stellt seinen Wagen nahe der Piazza Plebiscito in der dritten Reihe ab und geht seelenruhig weg: Er erwartet nicht einmal ein Strafmandat, und klauen werden sie das Auto auch nicht, wer hier einen solchen Wagen fährt, könnte auch ein Boß sein...

„Die Liste der Versäumnisse“, sagt er beim Eintauchen ins spanische Quartier, „ist ebenso lang wie die der Korruptionsfälle: Kaum eines der öffentlichen Krankenhäuser funktioniert, auch in dringenden Fällen empfiehlt sich zur Einweisung eine Bestechung des Chefarztes: Rechtspflege gibt es nicht mehr, über drei Millionen Verfahren warten auf ihre Erledigung. Dafür gibt es aber nicht einmal zehn voll einsatzfähige Staatsanwaltschaften.“

Dennoch: Auch hier will er die Schuld nicht einzelnen Politikern oder Verwaltungsleuten zuweisen, auch nicht der Korruption oder irgendwelchen Dummheiten der Mandatsträger: „Es ist diese Stadt selbst, die eine Eigendynamik entwickelt, die es sonst nirgendwo gibt. Selbst wenn ein Bürgermeister, ein Stadtrat, ein Polizeichef oder ein Richter die Gesetze anwenden möchte - ständig dreht sich alles im Kreis, und am Schluß kommt immer das Gegenteil dessen heraus, was beabsichtigt war.“

Er zeigt auf eine Baustelle: „Da drinnen arbeiten drei Dutzend Maurer, Handwerker und Hilfsarbeiter. Von denen sind höchstens vier oder fünf ordentlich gemeldet und versichert, der Rest wird schwarz bezahlt und bei einem Unfall entweder von einem miserablen Quacksalber verarztet oder mit einer Abfindung von ein paar tausend Lira nach Hause geschickt. Nun könnte ein eifriger Polizist dem nachgehen, ein Richter den Bauunternehmer verurteilen und die Abgaben zwangsweise einziehen lassen. Doch die Firma würde dann unweigerlich pleitegehen, die Belegschaft stünde auf der Straße. Die Abgaben, die unser Staat verlangt, sind so hoch, daß allenfalls ein paar Haie überleben könnten, nicht aber die Mittelständler. Das würde auch dann noch gelten, wenn sie keine Schutzgelder an die Gangsterbanden zahlen müßten.“

Aber gibt es nicht gerade im Bausektor etliche Unternehmer, die immens reich geworden sind - und darunter viele im Bunde mit der Camorra?

„Es klingt sicherlich paradox, aber daß die so reich werden, verdanken sie eben diesem System der zu hohen Abgaben: Weil man die niemals alle bezahlen kann, auch nicht als reicher Unternehmer, zahlt man überhaupt nichts oder nur minimal - und dann wird es natürlich für die Firmeneigner sehr rentabel. Würde beispielsweise der Staat statt derzeit an die 60 nur 40 Prozent des Einkommens durch Steuern und Abgaben einziehen, könnten gut zwei Drittel der Firmen zwar bescheiden, aber immerhin unter Beachtung der einschlägigen Gesetze leben. Der Staat fordert zu viel. Folglich hinterziehen alle möglichst alles - und dem können selbst Polizisten und Staatsanwälte nicht beikommen, die 24 Stunden am Tag arbeiten. Genau da schwimmen die Haie natürlich mit.“

Aber für den Staat ist das doch ein Eigentor. Könnte er nicht...

Ciro kennt das Argument schon: „Nein, das kann er nicht. Erstens ist der Staat selber immer pleite und hofft, durch hochgetriebene Abgaben wenigstens etwas hereinzukriegen. Zweitens müßte er sich erst mal in die Lage versetzen, nach dem Rechten zu sehen: Das würde gewaltige zusätzliche Ausgaben bedeuten, für neue Polizei- und Richterstellen, für ihre Ausrüstung; die derzeitige ist doch Schrott. Vor allem aber für die Ausbildung von Polizisten und Juristen. Seine Schulden würde der Staat damit noch verdoppeln, und so steht er mit gebundenen Händen da.“

Hat mein Gesprächspartner überhaupt noch Hoffnung?

Ciro bleibt stehen und sieht mich an, als falle er aus allen Wolken: „Hoffnung worauf? Du hast mich nicht verstanden. Ich wollte dir nicht beweisen, daß man alles anders machen müßte. Ich wollte dir nur zeigen, daß man in dieser Stadt so leben muß, wie man eben hier lebt. Daß man nur überleben kann, wenn man sich in diesen selbstgesteuerten Mechanismus aktiv und passiv integriert. Das große Problem des Überlebens besteht nicht darin, daß man sich den hier geltenden Gesetzen und Regeln unterwirft, sondern daß man oft schwer in die Klemme gerät zwischen dem Gesetz, das der Staat auferlegt und mitunter hart durchzusetzen versucht, und dem, was man hier von Kindheit an lernt und was man nicht unbedingt als schlechter, oft sogar als menschlicher empfindet als die staatlichen Normen.“

Meine Verwirrung scheint die Verwandten Ciros nicht sonderlich zu überraschen, als er mich wieder bei ihnen abliefert.

„Überzeugt hat der dich nicht“, sagt Gennaro, „aber Gegenargumente hast du auch keine mehr, was?“ Er hatte recht.

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