: Sowjetunion ade
Litauer, Esten und Letten streben Selbständigkeit an ■ K O M M E N T A R E
Vielleicht ist es schon ein Zeichen von Hilflosigkeit und Resignation, wenn Michail Gorbatschow den Teufel an die Wand malt. Doch auch der Hinweis auf die unkalkulierbaren Folgen des Auseinanderbrechens der Sowjetunion, sein Vergleich mit den Schrecken der chinesischen Kulturrevolution Ende der sechziger Jahre, die den älteren Sowjetbürgern angesichts der damals breiten Berichterstattung in den Medien noch in den Knochen steckt, hat die Wahl in Litauen und Estland nicht beeinflussen können. Der Zug in Richtung Unabhängigkeit ist in den baltischen Republiken längst abgefahren. Dem Mann, der die Perestroika in Gang setzte und damit gerade den baltischen Ländern erst die „Luft zum Atmen“ gab, ohne den also die jetzige Entwicklung undenkbar gewesen wäre, mag die feste Haltung der Litauer, Esten und auch Letten bitter aufstoßen. Wenn am Sonntag der Oberste Sowjet der Republik Litauen zusammentritt, wird trotzdem die überwältigende Mehrheit aus Mitgliedern der Volksfront Sajudis und den Nationalkommunisten den Austritt aus der Sowjetunion proklamieren, ob dies Gorbatschow nun schadet oder nicht. Und Estland wird in den nächsten Tagen folgen.
Hatten die Triebkräfte der „Demokratischen Bewegungen für die Perestroika“, der Volksfronten, anfangs lediglich zum Ziel, endlich ernst zu machen mit der Umgestaltung, wollten sie Vorreiter sein bei den wirtschaftlichen Reformen in der Sowjetunion, so haben sich nach und nach ihre Forderungen radikalisiert. Mit der Debatte um den Stalin-Hitler-Pakt, durch den die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit verloren, hat sich das nationale Selbstbewußtsein schärfen können. Und die negativen Erfahrungen mit den weiterhin reformunwilligen Moskauer Wirtschaftsplanern trugen dazu bei, den Wunsch zu stärken, die wirtschaftlichen Knebel Moskaus völlig abzustreifen. Nach den demokratischen Revolutionen in den anderen Ländern Ostmitteleuropas fürchten die meisten Balten zudem, ohne den Austritt aus der Sowjetunion den Anschluß an die Europäische Entwicklung zu verpassen.
Angesichts der Wahlergebnisse in Rußland, Weißrußland und der Ukraine haben die Litauer den Zeitpunkt ihres Vorstoßes gut gewählt. Mit der Stärkung der demokratischen Kräfte in Rußland ist die befürchtete Reaktion einer chauvinistischen Welle im Zentrum der Sowjetunion zunächst gebannt und der Parteiapparat weiter in die Defensive gedrängt. Auch die Armee kann nicht eingreifen, eine Intervention ist heute ausgeschlossen. Da in Rußland zudem die Tendenz immer deutlicher wird, freiwillig auf die kolonialen Relikte der Vergangenheit zu verzichten - sowohl in der westlich orientierten Strömung der Gesellschaft wie auch bei den Russophilen wächst der Wunsch, sich auf die eigene Kraft zu besinnen - werden im europäischen Haus bald alte Nachbarn in neue Zimmer ziehen.
Erich Rathfelder
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