Hermine will keine „Faschistka“ mehr sein

oder: Wie Helmut Kohl zu Wählerstimmen aus der Steppe kommt  ■ K O M M E N T A R

Ein Brief aus Alma-Ata, Kasachstan, benötigt nach Berlin normalerweise 14 Tage, die in der gleichen Stadt hergestellte deutsche Tageszeitung 'Freundschaft‘ ist sechs Tage alt, wenn sie im hiesigen Briefkasten steckt.

In seinem letzten Brief aus der kasachischen Hauptstadt schrieb mir mein Freund Herold B., mich irrtümlicherweise mit dem Titel „Perestrojtschik“ adelnd: „Wenn Du mit der Perestrojka in der DDR fertig bist, kommst Du bitte nach Alma-Ata, bei uns ist die Perestrojka etwas verwelkt...“ Wie wahr in der 'Freundschaft‘, die vorgestern (S. 3) ankam, war das einzig Bemerkenswerte, daß die Kopfzeile, mit der die Proletarier aller Länder zur Vereinigung aufgerufen werden, gegen die Zeile Für Einigkeit, Demokratie und Humanismus! ausgetauscht wurde.

Diese Änderung wurde vielleicht schon vor längerer Zeit vorgenommen, und ich hatte es nur nicht bemerkt. Weil ich diese Zeitung nämlich seit November '89 nicht mehr intensiv lese, sondern sie eigentlich nur noch beziehe. Und zwar nicht allein deshalb, weil ich nun nicht mehr auf ausländische Informationen angewiesen bin, sondern weil in der 'Freundschaft‘ inzwischen ein Hauch von Gilb umgeht. Von dem Aufwind beispielsweise, der noch vor Monaten durch die Aussicht auf Wiederherstellung der wolgadeutschen Republik zu spüren war, von den Hoffnungn der zwei Millionen Sowjetdeutschen auf Wiederherstellung der Autonomie inzwischen ist kaum noch etwas davon zu verspüren. So denn wird die Gesellschaft „Wiedergeburt“ wohl doch ein Verein zur Abwicklung der Emigration werden. Tag um Tag kann man sie auf ihren Bündeln in Scheremetjewo sitzen sehen - Haus und Hof sind verschleudert: man hat ihnen, die noch nie Deutschland gesehen haben, die seit zweihundert Jahren unter Russen und anderen Völkerschaften leben, das „Heimat„-Gefühl geradezu eingebleut - an der Wolga organisieren die Partei und Staatsfunktionäre antideutsche Demonstrationen, und in Kasachstan, wo sie seit '41 zu „siedeln“ gezwungen waren, gucken Kasachen scheel auf die Deutschen, die ihnen von den Russen ins Land gebracht wurden. So denn ist es auch heute noch möglich, daß beim Weiberstreit im Kolchosstall so eine deutsche Hermine als „Faschistka“ beschimpft wird. Sicher, so eine Beschimpfung ist irrational, aber sie ist eben nicht weniger irrational als das Land der Verheißung, das in den Köpfen vieler Sowjetdeutscher herumspukt.

Die Bundesrepublik Deutschland, die es in ihren Köpfen gibt, existiert nicht einmal in den Prospekten der Tourismusbörse. Doch von politischem Belang ist etwas anderes: Die Sowjetdeutschen sprechen nicht nur ein altes Deutsch und tragen nicht nur alte Vornamen, sondern viele von ihnen hängen auch Lebensvorstellungen an, die das Herz eines Konservativen vor Freude springen lassen. Da sind Sitte und Anstand noch von Wert. CDU-Wähler en masse sitzen in Dörfern der kasachischen Steppe auf gepackten Koffern... es gibt sehr viele Gründe, einen Erfolg der Perestrojka zu wünschen.

Wolfgang Sabath