: Bevor die Baumblüte den Berlinern zu Kopfe steigt
■ Eine Empfehlung für Untrainierte, sich mit dem Fahrrad den Südosten des Berliner Umlands zu erschließen / Rund um den Schwielowsee und ein Abstecher zur Insel Werder, wo im Frühling von den Berlinern die Obstbaumblüte gefeiert wird
Daten: Streckenlänge 21 Kilometer (mit Schwielowsee 30 Kilometer) Zeitdauer vier bis fünf Stunden, S-Tarifbereich, das heißt mit Umweltkarte Fahrradbeförderung kostenlos, Züge fahren ungefähr stündlich.
Zur Anfahrt ist der Zug von Wannsee nach Potsdam zu empfehlen. Abfahrt ist immer zur halben Stunde. In den Vorräumen der Doppelstockwagen lassen sich problemlos jeweils mehrere Räder unterstellen. Endstation ist der „Hauptbahnhof Potsdam“: ein 50er-Jahre-Bau, als man aus politischen Gründen eine neue Verbindung von Potsdam nach Berlin (Ost) schuf. Für diese Verbindung wurde der Templiner See bis auf ein kurzes Brückenstück mit einem Damm aus über zwei Millionen Kubikmeter Sand in zwei Teile getrennt. Soviel Material wurde verbraucht, weil man erst glaubte, nur den See aufschütten zu müsssen, sich dann aber herausstellte, daß die eiszeitliche Rinne noch um einiges tiefer war und noch 40 Meter unter dem Seegrund nur nachgiebiger Faulschlamm lag. An der Straßenbahnhaltestelle startet unsere Tour durchs Grüne.
Ab ins Grüne
Die kleine Straße „An der Pirschheide“ führt uns an das Ufer des Templiner Sees, wie dieser Teil der Havel genannt wird. Wer sein Rad tragen möchte, kann über die Eisenbahnbrücke auf die Seite von Caputh gelangen. Besser aber ist es, auf dem autofreien Ufer an der Jugendherberge und dem Campingplatz „Pirschheide“ vorbeizufahren. Der anfänglich asphaltierte Weg wechselt ständig seine Eigenart, Sand, Schotter, akzeptabler Waldweg, alles kommt vor, aber die Gegend ist sowieso viel zu schön, um hindurchzurasen. Bevor der Franzensberg dann den Weg mit seiner Flanke fast ins Wasser drückt, kann sich noch mal eine kleine Ausbuchtung der Havel (Petzinsee) ins flache Land ausdehnen. Dann stößt man auf die gepflasterte Caputher Straße, unnötig noch einmal ihr Ziel zu erwähnen.
Wer nicht in der nur Samstag und Sonntag nachmittag geöffneten Eisdiele oder der Bahnhofsgaststätte (Donnerstag geschlossen) einkehren möchte, sondern zum Beispiel die Stüler Kirche im italienischen Stil ansehen will, der kommt in den Genuß einer kurzen und preiswerten Bootsfahrt mit der Autofähre über die Havel. Am verblichenen, ehemals mit Glühbirnen erleuchteten Wegweiser vorbei läßt mensch sich vom Straßenbelag wachrütteln. Auch der ganze Ortskern von Caputh hat Pflaster, ebenso die von Ferch und Werder. Wen das nicht stört, der kann eine wunderschöne Runde von etwa zehn Kilometern rund um den südlichen Schwielowsee machen. Die Straße ist außerhalb des Ortes gut zu befahren, und der Autoverkehr hält sich in Grenzen. Lohnend ist ein, zwar mühsamer, Abstecher auf den Krähenberg südlich von Caputh wegen des Ausblicks über die Havelseenkette. In Ferch gibt es viele Ausflugsgaststätten sowie eine Fachwerkkirche und in Petzow am Westrand des Sees einen wunderschönen Park von Lenne um ein neogotisches Schlößchen („Zentrale Ausbildungsstätte des FDGB-Bundesvorstandes, Abt. Feriendienst“). Heiß umstritten ist die Anlage eines Bootssteges für Westler hier am idyllischen Ufer.
Wer etwas fauler ist, der sollte wieder auf dem nördlichen Ufer weiterfahren: unterhalb des kleinen Berges verläuft unsere Strecke dann auf einer wunderschönen glatt asphaltierten Nebenstraße Richtung Geltow. Die Stämme der Bäume, die hier ein Dach über der Straße bilden, sind mit Efeu bewachsen, draußen glitzert das Wasser des weiten Schwielowsees. Noch liegt unterhalb der Straße ein breiter Schilfgürtel, aber schon sieht man die ersten Campingmobile mit Surfbrettern drauf. Hoffentlich wird das Ufer nicht unter unserem Tourismusansturm zugrunde gehn, wie am Wannsee.
Insel Werder wartet
Wenn sich der stille Wald öffnet, braust über den Köpfen der Verkehr auf der F1 nach Werder. Wer die Inselstadt Werder nicht kennt, sollte hier die alte und deshalb ruhige Brücke zum Westufer nehmen und dann auf dem allerdings sehr holprigen Radweg neben der Hauptstraße nach Werder rollen. Zweimal im Jahr ist hier schwer was los: im Frühling zur Obstbaumblüte und im Herbst zur Ernte: Werder ist das größte geschlossene Obstanbaugebiet in der DDR. Aber schöne alte Bäume, wie sie in Kindergedichten - „Hoch oben sich ein Apfel wiegt, sieht aus als ob im Schlaf er liegt“ beschrieben sind, stehen hier kaum. Auf rund 10.000 Hektar wird hier der Obstanbau industriell betrieben. Alle paar Jahre kommt die große Raupe und schiebt alles Holz zur Seite. Dann geht's wieder von vorne los: Man erntet hier gerne in Brusthöhe. Aus diesem Grunde ist auch die Anbaufläche der Johannisbeeren in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Eine dauernde Ausstellung zum Obstanbau in Werder von 1800 bis heute ist nur nach vorheriger Anmeldung unter Telefon: 23 31 zu besichtigen.
Die Baumblüte in Werder diente seit alters her den Berliner Familien als Vorwand, um mal so richtig mit Obstwein zu versumpfen. Anders als die Kneipentouren, die meist nur den Männern vorbehalten waren, durften nach Werder auch die Frauen mit. Die Kinder wurden bei Tante Klara unterquartiert, die dafür demnächst den diesmal Glücklichen die Ihren „zum Hüten“ unterschob. Sonderzüge brachten die Hauptstädter zum Rüdesheim der Havel.
Der Wein aus Obst war süß, und jedes Jahr war um Werder großes Juchzen und Schunkeln. Kurz vor Mitternacht fuhren die findigen Werderaner mit Handwagen bei den Schänken vor und luden für'n Sechser die Berliner die zwei Kilometer zum Bahnhof, wo schon die mit Stroh gepolsterten Güterwagen warteten. An den letzten Zug war immer so ein Wagen angehängt, damit die hilflosen Berliner nicht im märkischen Sand liegenblieben. Tja, in der Organisation des Elends war man doch großartig.
An Werder vorbei
Wer nur richtig schön radeln will, bleibt auf dem rechten Ufer. Im Dorf Geltow kann man sich noch den Verkehr vor dem Bau der Umgehungsstraße vorstellen, wenn man die völlig verkratzte Betonumwehrung des Eckhauses ansieht, hier biegen wir links ab und folgen weiter der Havel flußabwärts, zur Abwechslung jetzt nach Norden. Auf der anderen Seite strecken sich die spitzen Türme der Heiliggeistkirche von Werder in den blauen und klaren Himmel. Wenn Sie vermuten, daß ein so kleiner Ort doch keine so mächtige Kirche zur Zeit der Gotik hervorgebracht hat, liegen Sie richtig: 1858 von Stüler, also als Neogotik erbaut.
Nach dem Abzweig der Straße nach Potsdam über Kuhfort, den wir nachher für die Rückfahrt benutzen, durchfahren wir das ruhige Wildpark-West auf der Havelpromenade. Das Sackgassenschild am Ende sagt dem Radler: Hier kommst Du durch, auf schmalem Weg folgt man dem Bahndamm, auf dem hier die Strecke nach Hannover die Havel quert. Die Werderbesucher stoßen hier wieder auf diese Route, wenn sie bereit sind, ihre Rösser über die steilen Treppen auf beiden Seiten zu tragen. Dafür lohnt die Aussicht von der Brücke.
Jene Radler, die die Rückkehr per Bahn vorziehen und Werder besuchen, möchte ich verraten, daß jede Stunde in Werder ein Zug abfährt, mit dem man Anschluß nach Wannsee hat. Abfahrt immer so um zehn nach.
Allen anderen ist die Rückfahrt über den asphaltierten Werderschen Damm über Kuhfort zum alten Kaiserbahnhof am Wildpark anzuraten.
Axel von Blomberg
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