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Wirtschaftsreform und Verelendung

■ Lodz ist das Brennglas der polnischen Wirtschaftsreform / In Sachen Kriminalität und Arbeitslosigkeit liegt die Stadt ganz vorne Über die Hälfte der Beschäftigten sind Frauen, die unter frühkapitalistischen Bedingungen arbeiten / Auf Arbeitslosigkeit ist man in Polen nicht vorbereitet / In den Fabriken geht die Angst um / Das Arbeitslosengeld liegt weit unter dem Existenzminimum

Klaus Bachmann

Als vor wenigen Monaten der neu ins Amt eingeführte Bürgermeister von Lodz, Bohdanowicz, wissen wollte, wie es hinter den Fassaden seiner Stadt aussieht, nahmen ihn die Polizeibeamten des Innenstadtbezirks mit zu sogenannten „Melina-Razzien“. Das Wort Melina ist nicht übersetzbar. Eine Melina ist eigentlich ein Ort, an dem illegal Alkohol verkauft wird, außerhalb der staatlichen Monopolläden zu erhöhten Preisen oder aus einer Schwarzbrennerei. Wenn das Wochenende kommt, die Läden schließen und Polens zahlreiche schweren Alkoholiker - ihre Zahl wird auf circa eine Million geschätzt - den Entzug nicht mehr aushalten, dann gehen sie in eine Melina.

Mit der Zeit haben sich die Meliny zu Orten entwickelt, wo es alles gibt: Hehlerware, Rauschgift, Prostituierte. In Polen, wo Prostitution praktisch nicht verboten und illegaler Alkoholausschank nicht nachweisbar ist, gibt es dennoch kaum Nachtklubs und Bordelle. Alles spielt sich in Privatwohnungen ab, in Meliny eben.

In der ersten Wohnung, die die Beamten - diesmal in Begleitung von Bürgermeister Bohdanowicz - überprüften, war die Hälfte des Bodens mit Exkrementen bedeckt, die andere Hälfte mit leeren oder halbleeren Schnapsflaschen und alten Zeitungen. Mittendrin ein einziges Möbel: ein altes Klappbett, in dem eine Frau in ihrem Erbrochenen lag. „Der Bürgermeister war beeindruckt“, erzählt einer der Beamten sarkastisch.

Jährlich werden in Lodz etwa 120 bis 200 Meliny ausgehoben, die meisten in der Innenstadt, in den „Famuly“, einer Altbausiedlung, um den „Balucki-Markt“, die Ulica Wschodnia und die Ulica Abramowskiego, die früher Kamienna hieß. Diese „steinerne Straße“ war bereits vor dem Krieg als Verbrecher und Elendsviertel berühmt. Heute sind dort viele von denen untergebracht, die aufgrund der Amnestie vom Winter freigelassen wurden.

Zahl der Raubüberfälle nimmt zu

Auf dem Polizeirevier Innenstadt behauptet man, der massive Anstieg der Kriminalität in diesem Jahr sei vor allem mit der Amnestie zu erklären. Ein Kriminalbeamter: „Die Anzahl der Überfälle ist im Vergleich zum Vorjahr um 80, die der Morde um 90 Prozent gestiegen. Im Monatsdurchschnitt haben wir zur Zeit circa 700 Autoeinbrüche.“ In die Schlagzeilen ist Lodz durch eine Gruppe von Jugendlichen gekommen, die Gleichaltrige ausraubten, indem sie sie in der Innenstadt am hellichten Tag in Toreinfahrten zerrten und zusammenschlugen. Ein 14jähriger Junge wurde bei einem solchen Überfall erschlagen. Bei der Festnahme gaben die drei 17jährigen Tatverdächtigen insgesamt 60 Überfälle zu.

Die meisten Überfälle werden unter Alkoholeinfluß ausgeführt, 90 Prozent der Opfer sind ebenfalls betrunken. Inzwischen ist aus dieser wilden Kriminalität teilweise bereits eine organisierte geworden. Eine Gruppe hat sich, ausgerüstet mit schnellen Wagen westdeutscher Provinienz, auf die Beschaffung von Nähmaschinen spezialisiert. Staniecki: „Die klauen schon auf Bestellung.“ Daneben nimmt jedoch auch die wilde Kriminalität weiter zu. Ein Kriminalkommissar: „Bei diesen Gelegenheitseinbrüchen wurde früher vor allem Kaffee und Alkohol mitgenommen, weil das teuer, knapp und leicht zu verhökern war. Inzwischen wird bei Einbrüchen, besonders in Lebensmittelgeschäfte, auch Wurst und Fleisch mitgenommen.“

Über die wirklichen Gründe für die Zunahme der Kriminalität ist wenig bekannt. Doch fällt der Anstieg der Kriminalität zeitlich nicht nur mit der Amnestie zusammen, sondern auch mit der Wirtschaftsreform, die immerhin zu einer über 20prozentigen Senkung des Lebensstandards geführt hat. Hinzu kommt der Alkoholismus und neuerdings immer mehr die Arbeitslosigkeit - und vor allem die Angst davor. In den meisten Familien müssen beide Partner arbeiten, zugleich reicht das Geld aber oft nicht einmal aus, um die Kinder derweil in den Kindergarten zu schicken. Eine alleinstehende Lehrerin, die ihre beiden Kinder in den Kindergarten schickt, muß allein dafür schon 80 Prozent ihres Gehalts ausgeben. Also bleiben die Kinder unbeaufsichtigt daheim, oder auf der Straße.

Als Andrzej Skubala, Inspektor des Innenstadtreviers vor wenigen Wochen einen 14jährigen Dieb festnahm und zu seiner Mutter brachte, schickte die ihn gleich weg: „Entweder du bringst Geld mit oder du schläfst auf der Straße.“ Doch nicht nur in „moralisch bedrohten Familien“, wie man schwere Sozialfälle in Polen euphemistisch zu umschreiben pflegt, bleiben die Kinder sich selbst überlassen. Pfarrer der Arbeitergemeinden berichten, daß am Sonntagvormittag häufig kleine Kinder in die Messe kommen, die den Hausschlüssel an einem Bändchen um den Hals hängen haben. Für die Mütter ist der Sonntag der einzige Tag, an dem sie ausschlafen können. Sie arbeiten die Woche über in den Textilbetrieben von Lodz, häufig sogar in mehreren Schichten, Nachtarbeit eingeschlossen.

Das Nachtarbeitsverbot für Frauen wurde in Polen bereits in den fünfziger Jahren abgeschafft, vorübergehend, wie es damals hieß. Inzwischen haben sich viele Frauen darauf eingerichtet: Sie arbeiten nachts, kommen morgens nach Hause, machen den Haushalt, kaufen ein, kümmern sich um die Kinder. Geschlafen wird am Wochenende. Und jetzt, wo sich ohnehin jeder vor der Arbeitslosigkeit fürchtet, kommt es natürlich nicht in Frage, den Arbeitsplatz aufzugeben oder zu wechseln.

„Wir haben eine halbe Million Beschäftigte in Lodz, davon sind über die Hälfte Frauen.“ Direktor Sylwester Pomorski, Chef des Arbeitsamtes in Lodz, lehnt sich zurück, während er in seiner Statistik blättert. Pomorski kann nicht über Langeweile klagen. Seit die Arbeitslosigkeit in Lodz von 1.800 Arbeitslosen auf 12.216 im März gestiegen ist, wird sein Amt geradezu belagert. Massenentlassungen sind bisher weitgehend ausgeblieben, doch haben bereits mehrere Betriebe solche angekündigt. Pomorski schätzt, daß die Arbeitslosigkeit in diesem Monat auf knapp vier Prozent steigen wird.

Das Desaster am Beispiel Potex

Bisher sind die Direktoren der Betriebe in Lodz daran interessiert, Massenentlassungen zu vermeiden, da sie den Entlassenen, den deutschen Sozialplänen vergleichbar, Abfindungen zahlen müssen, die, je nach Dauer der Betriebzugehörigkeit des Entlassenen, zwischen einem und drei Monatslöhnen liegt. Bei individuellen Entlassungen fallen Abfindungen weg, besonders wenn dem Entlassenen einen Disziplinarverstoß nachgewiesen werden kann.

Direktor Zbygniew Majer, Chef des bekannten und traditionsreichen Textilbetriebs Poltex versucht Massenentlassungen zu vermeiden. Aber in den ersten Monaten diesen Jahres ist der Absatz von Poltex, um 30 Prozent zurückgegangen. Die Firma produziert vor allem Meterware und Konfektion. Majer: „50 Prozent davon exportieren wir, das meiste nach Westeuropa und die USA.“ Der Export in die Sowjetunion ist zurückgegangen, und auch in Polen ist der Absatz von Textilien nicht einfacher geworden. Majer: „Durch die Senkung der Realeinkommen und die gleichzeitige drastische Anhebung der Steuern und Produktionskosten sind unsere Produkte zu teuer geworden. Jetzt sind die Magazine voll. Unsere einzige Hoffnung ist der Westexport.“ Durch die Preisfreigabe sind die Energiekosten im Vergleich zum Vorjahr auf das Sieben-, die Grundsteuer auf das Zwölffache, die Sozialabgaben von 58 auf 65 Prozent und die sogenannte Dividende, die vom Staat festgelegte Gewinnausschüttung, um das Zwölffache gestiegen. Der Dollarkurs, der angesichts der Exportorientierung des Unternehmens über den Umsatz entscheidet, ist dagegen real nur um circa 30 Prozent hochgesetzt worden.

Modernisierung ist nicht

finanzierbar

Unter normalen Marktbedingungen müßte Majer nun durch Rationalisierung versuchen, die Preise zu senken, um so die Nachfrage zu erhöhen. Doch in der Endfertigung von Poltex wird an Maschinen gearbeitet, die aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts stammen. Sie durch moderne zu ersetzen, würde mehrere Millionen D-Mark kosten, hat Majer errechnet, denn modernere Fertigungsmaschinen stellt Polen selbst nicht her. Um sie aus dem Westen zu importieren, fehlen die Geldreserven.

Einziger Ausweg: Es findet sich ein westlicher Investor, der die Maschinen mitbringt. Der allerdings hätte von dieser Investition nur etwas, wenn sich dadurch der Export erhöhen ließe: Nur die Gewinne aus dem Export dürfen derzeit ins Ausland transferiert werden. Doch auch beim Westexport stößt Majer bereits an Grenzen: Eine Exportlieferung nach Italien scheiterte daran, daß Polen sein Importkontingent für Textilien in Italien bereits ausgeschöpft hat.

Jetzt denkt man auch bei Poltex an Entlassungen. Massenentlassungen sollen jedoch vermieden werden: „Da müssen 45 Tage vorher die Gewerkschaften verständigt werden, die haben dann wieder wochenlang Zeit, darauf zu antworten, dann muß ein Sozialplan her...“ Einstweilen werden also die sogenannten „natürlichen Abgänge“ nicht mehr ersetzt, Arbeiterinnen (75 Prozent der Belegschaft sind Frauen), die, die bereits Rentenanspruch erworben haben, kommen als erste dran, und natürlich enden Verstöße gegen die Disziplin nicht nur mit Entlassung, sondern mit Streichung der Stelle.

Für Majer hat die Arbeitslosigkeit einstweilen vor allem Vorteile. Im letzten Quartal 1989 betrug die Abwesenheitsquote 25 Prozent, in diesem Jahr liegt sie bei vier bis sechs. Daß das andauernde Fehlen von etwa einem Viertel der Beschäftigten nicht in Ordnung war, geben auch Gewerkschaftsvertreter zu. Beim Streik letzten Herbst hatte die Belegschaft durchgesetzt, daß die Akkordprämien auch im Krankheitsfall ausbezahlt werden. Ein Gewerkschafter: „Da lohnte es sich natürlich, zu Hause zu bleiben. Manche Abteilungen standen wegen Krankheitsausfällen tagelang still.“

Mehr gearbeitet wird jetzt allerdings auch nicht: Das neue Jahr fing für die Poltex-Beschäftigten zunächst einmal mit Zwangsurlaub und Kurzarbeit an. Die Gewerkschaften stehen mit dem Rücken zur Wand: Sie wissen, ohne Entlassungen geht es vielleicht noch ein paar Monate weiter wie bisher, dann steht dafür der Konkursverwalter vor der Tür, und keiner hat mehr Arbeit. Krystyna Michala ist freigestellte Vorsitzende der Gewerkschaft der Poltex-Beschäftigten, die dem Gewerkschaftsdachverband OPZZ angehört.

OPZZ wurde nach dem Verbot von Solidarnosc von dem Kriegsrechtsregime als Konkurrenzgewerkschaft gegründet. Krystyna Michala: „Der Direktor hat seine Strategie mit uns abgesprochen, aber ich glaube nicht, daß wir auf längere Sicht um Massenentlassungen herumkommen. Heute haben alle Angst davor. So wie der Betrieb ausgerüstet ist, sind wirkliche Rationalisierungen kaum möglich.“

Die Notgemeinschaft von Direktor

und Gewerkschaften

Die OPZZ-Gewerkschaft hat 1.900 Mitglieder im Betrieb, fast zweieinhalbmal soviele wie die ebenfalls bei Poltex arbeitende Solidarnosc. Während bei den OPZZ über die Hälfte der Führungspositionen mit Frauen besetzt sind, sind es bei Solidarnosc gerade drei von 15. Jerzy Feliga, freigestellter Vorsitzender der Poltex-Solidarnosc: „Wir freuen uns schon, daß wir wenigstens nicht Konkurs gehen.“ Gegen die Entlassungen hat auch Solidarnosc nichts einzuwenden. Sowohl Solidarnosc als auch OPZZ unterschreiben die vom Direktor vorgelegten Listen meist anstandslos.

In letzter Zeit kann Solidarnosc wieder Mitgliederzuwachs verzeichnen. Krystyna Michala: „Die Leute glauben, wenn sie in einer regierungsnahen Gewerkschaft sind, fliegen sie nicht so schnell raus.“ Ein Trugschluß, zumal Solidarnosc immer häufiger für die Wirtschaftspolitik und damit für die Entlassungen verantwortlich gemacht wird. „Streiken würde jetzt jedenfalls niemand mehr“, meint Krystyna Michala. Denn in den Hallen von Poltex geht die Angst um.

In der großen Spinnereihalle von Poltex herrscht ein Lärmpegel von 104 Dezibel; die Arbeiterinnen erhalten kleine Ohrenstöpsel, die das Geräusch dämpfen sollen, doch der Druck auf den Ohren verschwindet dadurch nicht. Die Luft ist voller Baumwollfäden, an der Decke versprühen Wasserdüsen weißen Nebel. In einem häßlichen, kahlen Raum sitzen fünf Frauen und ein junger Mann an einem Tisch und frühstücken Käsebrote und Dosenwurst. Aus zwei Löchern in der Wand gießen sie sich zwischendurch Kaffee oder Limonade ein. Über allem ein riesiges Schild: „Guten Appetit“.

Eine etwa 50 Jahre alte Arbeiterin, die den Raum fegt, weil sie aufgrund eines in der Spinnerei verursachten Ohrenleidens dort nicht mehr arbeiten darf, meint: „Es ist nicht wahr, daß die Leute nicht streiken und protestieren, weil sie mit der Regierung einverstanden sind. Sie halten still, weil sie einfach Angst haben, entlassen zu werden.“ Diese Angst sei es auch, die die beiden verfeindeten Gewerkschaften dazu gebracht habe, zusammenzuarbeiten. „Schließlich geht es ja um die gleiche Belegschaft.“

Gesundheitsschäden

durch die Produktion

Halina T. arbeitet schon über 20 Jahre bei Poltex in der Spinnerei. Sie ist schon zum zweitenmal Witwe. Eine Witwenrente erhält sie nicht. „Ich habe hier mein Leben verbracht und meine Gesundheit verloren“, sagt sie, während sie in ihr Käsebrot beißt, „wo soll ich denn jetzt noch hin? Wenn ich noch jung wäre, würde ich nicht hier arbeiten. Meine Kinder tun das ja auch nicht.“ Ihren Sohn hat sie vor zwölf Jahren in der Spinnerei zur Welt gebracht. Ungefähr ab dem vierten Schwangerschaftsmonat würden die Frauen zur sogenannten Hilfsarbeit aus der Spinnerei versetzt, erklärt Anna Skoneczka, Redakteurin der Betriebszeitung und des Betriebsradios und zugleich Pressesprecherin von Poltex, die damals das freudige Ereignis in der Betriebszeitung bekanntgab. Doch in der sogenannten „geschützten Abteilung“ verdienen die schwangeren Frauen darum auch weniger.

Der Sohn von Halina T. war nicht das einzige Kind, das hier zur Welt kam: „Betriebskinder“ gab es insgesamt zwei und beide wiesen später Gesundheitsschädigungen auf. Auch für die Frauen, die den ganzen Tag an den Maschinen stehen und zum Teil sogar ihre Mahlzeiten im Baumwollnebel verzehren, bleiben die Arbeitsbedingungen nicht ohne Folgen: „Rückgradschmerzen, Ohrenweh, Atemwegserkrankungen, Krampfadern“, zählt eine Arbeiterin auf. Bei manchen kommt es zu Verschiebungen der Monatsregel.

Halina T. verdient nach über zwanzig Jahren 444.000 Zloty im Monat. Wenn sie sich in einem Laden eines der Poltex -Hemden kaufen will, die sie selbst herstellt, geht dafür fast ein Zehntel ihres Monatslohns drauf. Der Anteil der Löhne an den Produktionskosten liegt unter zehn Prozent, gibt auch Direktor Majer zu. Entlassungen tragen da kaum zur Kostensenkung bei. Doch andererseits: An den Kreditzinsen, den Energiekosten, der sogenannten Dividende und den Steuern kann Poltex selbst nichts ändern. Die Endfertigung, wo normalerweise von den 215 dort beschäftigten Frauen 70 in der Nachtschicht arbeiten, steht zur Zeit still. „Kurzarbeit“, erklärt Anna Skonieczka. „Was danach kommt, ist in der Ulica Wolczanska zu besichtigen.“

Im Angebot: Stundenweise

Beschäftigung

Dort befindet sich das Arbeitsamt von Lodz, schon von weitem an den Warteschlangen zu erkennen. Vor dem Amt warten arbeitslos Gemeldete auf Gelegenheitsarbeiten und studieren derweil die Zettel mit Angeboten, die überall an den Mauern, Bäumen und an den Anschlagbrettern im Inneren des Amtes hängen. Ab und zu fährt ein Handwerker oder Kleinunternehmer vor, der jemanden ein paar Stunden für Ladearbeiten braucht. Dann kommt jedesmal etwas Bewegung in die Menschenmenge. Es sind viele junge Leute dabei, und alles weist darauf hin, daß ihre Zahl noch zunehmen wird, wenn erst in einigen Wochen 400.000 Schulabsolventen auf den Arbeitsmarkt drängen. Sozialminister Kuron geht von 400.000 Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt aus, und so ist auch sein Budget bemessen. Doch bereits bis Ende März waren es in ganz Polen 260.000.

„Diese Entwicklung setzte sehr plötzlich ein“, berichtet Sylwester Pomorski, „noch Ende Dezember hatte ich 16.000 freie Stellen. Und vom 15. auf den 16. Januar wurden die dann schlagartig zurückgezogen.“ Zwei Wochen später hatte Pomorski bereits 1.800 Arbeitslose. Mittlerweile besteht die Gefahr, daß sich in Polen schon in wenigen Wochen ein riesiges Lumpenproletariat bilden könnte. Und das hat seine Gründe auch im System der Vergabe von Arbeitslosenhilfe: Ein Arbeitsloser bekommt zunächst drei Monate lang 70 Prozent seines vorherigen Nettolohns ausgezahlt jedoch höchstens 437.000 Zloty, die dem Durchschnittslohn in der verstaatlichten Industrie entsprechen. Nach weiteren drei Monaten sinkt dieser Prozentsatz für die Dauer von sechs Monaten auf 50 Prozent, danach zeitlich unbegrenzt auf 40. Die untere Grenze entspricht dabei dem sogenannten Mindestlohn, der jeweils vom Statistischen Zentralamt veröffentlicht wird und zur Zeit ganze 120.000 Zloty beträgt.

Der „statistische Mindestlohn“

Dieser „Mindestlohn“ ist allerdings eine reine Fiktion: Er ist um 40.000 Zloty niedriger als der gesetzliche Mindestlohn, den Firmen als unterste Lohngrenze auszahlen dürfen. Damit verhindert soll werden, so Sozialminister Kuron, daß sich auch Leute arbeitslos melden, die gar nicht arbeiten wollen. Für die wäre es dann gleich, ob sie für den gesetzlichen Mindestlohn arbeiten, oder als Arbeitslose den statistischen Mindestlohn erhalten. Was dabei vergessen wird: Die Arbeitsvermittlung ist so geregelt, daß ein Arbeitsloser nur eine ihm vermittelte Arbeit pro Monat ablehnen darf. Lehnt er ein zweites Mal ab, verliert er seinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Und die Vermittlungskriterien sind in Polen weder durch Gesetz, noch durch Verordnungen geregelt. Was „zumutbar“ ist, entscheidet in Lodz Sylwester Pomorski. Einem arbeitslosen Journalisten, so meint der, sei eine Arbeit als Sachbearbeiter bei einer Versicherung durchaus zuzumuten. Anreize, arbeitslos zu werden, gibt es in Polen also wahrhaftig nicht.

Die Festlegung dieses drastischen „Mindestlohnes“ auf nur 120.000 Zloty hat fatale Folgen. Auf Grund der niedrigen Löhne fallen viele Arbeitslose schon zu Beginn ihrer Arbeitslosigkeit in das Loch des statistischen Mindestlohnes. Sie verfügen, so haben die Gewerkschaften errechnet, über weniger als die Hälfte des Existenzminimums, das ein Überleben ohne Gesundheitsschäden ermöglichen soll. Sowohl Solidarnosc als auch die OPZZ fordern daher, die Untergrenze der Arbeitslosenhilfe an das Existenzminimum zu binden. Einstweilen ohne Erfolg. Denn das das Sozialministerium mit seinem knappen Budget überhaupt auskommt, liegt an eben dieser Regelung. Direktor Pomorski: „Von unseren über 12.000 Arbeitslosen, die alle erst seit ein paar Monaten ohne Arbeit sind und, folglich noch 70 Prozent ihres früheren Lohnes erhalten, sind bereits 3.500 beim Minimum von 120.000 Zloty.“

Das Ende der sozialen Sicherheit

Wenn bald die Schul- und Hochschulabsolventen dazu kommen und sich die Struktur der Arbeitslosigkeit nicht wesentlich verändert, wird diese Tendenz wesentlich stärker werden. Schon jetzt stellen Arbeitslose ohne Berufsausbildung fast die Hälfte von Pomorskis Besuchern. Dazu kommen noch jene zu Jahresbeginn Entlassenen, deren Unterstützung in den nächsten Wochen von 70 Prozent auf 50 Prozent ihres bisherigen Lohns herabgesetzt wird und die damit ebenfalls massenhaft in das „Mindestlohnloch“ fallen werden. Nicht genug damit, daß Lodz, entsprechenden Ankündigungen der Betriebe zu schließen, circa vier Prozent Arbeitslose haben wird, das Arbeitslosenheer wird auch noch ein völlig verarmtes und demoralisiertes sein. Denn für Polen kommt das Phänomen Arbeitslosigkeit völlig überraschend.

Vierzig Jahre lang waren Polens Bürger daran gewöhnt, politisch und kulturell zwar unterdrückt, aber wenigstens sozial abgesichert zu sein. Nicht nur, daß Arbeitskräftemangel herrschte und man es sich leisten konnte, krankzufeiern und zugleich schwarz zu arbeiten. Selbst wenn man entlassen wurde, kam man immer noch irgendwie durch. Der Mangel an Dienstleistungen machte es möglich, als Taxifahrer, Handwerker, Klempner oder gar Devisenschwarzhändler zu arbeiten, um innerhalb kürzester Zeit ein Vermögen zu verdienen.

Jetzt haben Polens Verbraucher kein Geld mehr, um die horrend hohen Stundensätze der Handwerker zu bezahlen, die Taxis stehen in langen Schlangen an den Bahnhöfen, und der Devisentausch ist legal geworden. Um einen eigenen Betrieb aufzumachen, muß man erst einmal einige Millionen Zloty investieren. Wer jetzt arbeitslos ist, ist es wirklich. Die Erkenntnis hat im Bewußtsein der meisten Polen eingeschlagen wie eine Bombe. Arbeitslos, so etwas kannte man zuvor nur aus dem Westen, und weil es von der Propaganda immer ausgeschlachtet wurde, nahm man an, so schlimm werde es schon nicht sein. Meist konnte man gerade in Polen hören, die Arbeitslosen im Westen, das seien ja ohnehin nur Nichtsnutze, da sollte man mal uns ranlassen... Jetzt ist es soweit, und es stellt sich heraus, daß niemand, von der Regierung über die Firmenchefs bis zum Pförtner da weiterweiß.

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