: „Es genügten ihm seine Empfindungen der Welt gegenüber“
■ Mit Ralf Rainer Rygulla, dem langjährigen Mitarbeiter von Rolf Dieter Brinkmann, unterhielten sich Gunter Geduldig und Marco Sagurna über den Autor
Fünfzig Jahre alt und doch schon fünfzehn Jahre tot. Nun, Heinrich von Kleist war 34, als er starb, Georg Heym 24 und Georg Büchner gar erst 23. Gemessen an ihnen hat Rolf Dieter Brinkmann, der am 16. April 1940 in Vechta geboren wurde und am 23. April 1975 in London verunglückte, ein ganz normales Alter erreicht.
Ralf Rainer Rygulla, Jahrgang 43 lernte Rolf Dieter Brinkmann 1959 in Essen kennen, wo beide ihre Buchhändlerlehre in einer katholischen Buchhandlung absolvierten. Nachdem die Freundschaft der beiden 1971 auseinandergebrochen war, arbeitete Rygulla zunächst im März -Verlag als Lektor, danach als Diskjockey in einer Frankfurter Diskothek, die er seit einigen Jahren als Geschäftsführer leitet. Dieser Tage erschien nach langer Zeit wieder ein literarischer Titel von Rygulla: „Die Qual der Belgier . Songs“ im Frankfurter Paria-Verlag. Zu Brinkmann-Zeiten verband beide eine sehr sinnliche Literaturbesessenheit. Hier nun Ausschnitte aus dem Interview mit Ralf Rainer Rygulla:
Brinkmann und Sie haben zusammen Literatur gemacht, Sie haben gemeinsam geschrieben, gemeinsam aus dem Amerikanischen übersetzt und Anthologien herausgegeben: Brinkmann „Silver screen“, Sie „Fuck you“, Sie beide „Acid“.
Rygulla: An diesen Büchern haben wir parallel und zusammen gearbeitet. Unser Rahmen war das tägliche Zusammensein, unsere Freundschaft, daß wir dieselben Sachen lasen, daß wir dieselbe Blickrichtung wählten, dieselben Intensitäten entwickelten. In der Zeit unseres Zusammenseins war jeder an der Arbeit des anderen unmittelbar beteiligt. Ich weiß zum Beispiel, daß dieses obszöne Moment in dem Roman Keiner weiß mehr in der ersten Fassung überhaupt nicht vorhanden war oder nur ganz wenig, ganz verschleiert. Mich störte das, wir haben dann lange daran gesessen, lange darüber geredet, daß man die Dinge benennen sollte. So kam es, daß das Ganze durch ein sexuelles Vokabular stärker, deutlicher, meinetwegen auch obszöner wurde.
Inwieweit hat das konservativ-katholische Leben in Vechta Brinkmann beeinflußt? Hat er diesbezüglich mal etwas zu Ihnen gesagt?
Ich kam aus Höxter an der Weser, Brinkmann aus Vechta. Wir beide hatten unter der Atmosphäre einer westdeutschen Kleinstadt gelitten, und beide wollten wir so schnell wie möglich da wegkommen. Wir sind sicherlich hergezogen über die Enge, über das miefige Kleinkarierte dort. Das waren Schreckensbilder, die auch immer übertrieben gezeichnet wurden. Dann kamen wir zwar in eine größere Stadt, aber auch in einen noch viel größeren Muff hinein, nämlich in eine katholische Buchhandlung. Zu 50 Prozent wurden dort Liturgica und Gebetbücher verkauft. Daß die belletristische Abteilung ganz gut sortiert war, darauf achteten Brinkmann und ich, aber da war auch ein Raum, da hingen Weihwasserbecken, Rosenkränze und Ikonen, die wir verkaufen mußten. Brinkmann mußte also auch schon mal verschiedene Rosenkränze in der Hand halten, einem Interessenten vorführen und zusehen, daß er einen davon verkauft.
Und damit hatte er Schwierigkeiten?
Ja, damit hat ja wohl jeder Schwierigkeiten. Außerdem war das ein sehr ausbeuterischer Betrieb. Es gab einen Lehrherren, der uns immer terrorisiert hatte mit seinen Herzattacken. Wenn er Widerworte von uns hörte, mimte er immer gleich eine Herzattacke. Wir wurden total ausgebeutet. Im ersten Lehrjahr saß man nur im Packkeller, hat Gebetbücher verpackt und versendet. Wir standen in einer ganz großen Opposition zu dem Laden und haben dann auch die Sache so gerade eben hingebogen. Heute würde man so eine Lehre abbrechen.
Beide übersetzten Sie und machten eigene Literatur. Wurde darüber hinaus auch gelesen, was die Zeitgenossen so schrieben?
Na ja, sicher, ich meine, Lesen war das Selbstverständlichste. Brinkmann hatte mit Kiepenheuer & Witsch einen Vertrag, daß er aus der verlagseigenen Buchhandlung jede Neuerscheinung zur Ansicht mitnehmen durfte. Unter dieser Vereinbarung hat der Geschäftsführer der Buchhandlung sehr gelitten. Ich weiß noch genau, wie wir den Weg über den Aachener Weiher-Engelbertstraße -Unibuchhandlung bepackt mit Tüten voller Bücher gegangen sind. Alle Neuerscheinungen, alles, alles wurde durchgeblättert, gemustert, beachtet und verworfen. Ich meine, so neun Zehntel wurden natürlich sofort verworfen. Durch die Arbeit in der Buchhandlung und die Literaturbesessenheit bekamen wir beide eine sehr sinnliche Beziehung zu Büchern. Wir konnten schließlich am Geruch ein Luchterhand-Buch von einem Suhrkamp-Buch unterscheiden.
Wie war denn Ihre finanzielle Situation?
Wir lebten so am Rande der Armutsgrenze, aber das hat keinen von uns weiter beschäftigt. Wir hatten da keine Bedürfnisse. Nur Kino, billigen Rotwein... Das meiste Geld gaben wir für Bücher aus. Und diese ganzen Acid -Materialien haben wir selber bezahlt. Das waren Tausende von Mark.
Übrigens war Brinkmann, wenn es darum ging, Geld zu verdienen, wirklich ein eher abschreckendes Beispiel. Als ich nach Essen ging, war ich 16, Rolf Dieter war 20. Obwohl er nichts veröffentlichte, außer ein paar Gedichten in Zeitungen, sprach er von sich nur als Autor, als Dichter. Nachdem er einen Vertrag mit Kiepenheuer & Witsch hatte, tat er nichts anderes mehr für Geld als schreiben. Vorher war er noch ein Jahr in Köln, bei einem Buchgrossisten, und als er anfing, an der Umarmung zu arbeiten, blieb er nur noch Autor. Für den Rundfunk schrieb er dann und wann irgendein Feature, oder er machte was für den Stadtanzeiger. Für den WDR haben wir zusammen ein Fernsehspielexpose geschrieben. 3.000 Mark gab es für jeden von uns. Damit fuhren wir gleich nach England, um Texte und Bücher einzukaufen, die es hier nicht gab. Bald wollte der WDR natürlich mehr sehen als nur das Expose, und wir beschrieben zwanzig Seiten lang den Sonnenuntergang auf der Aachener Straße in Köln. Brinkmann wohnte auf der Aachener Straße, ich auf dem Brüsseler Platz. genau in der Straßenschlucht geht die Sonne unter, wundervolle Sonnenuntergänge. Das haben wir lange, lange beschrieben, aber die beim WDR haben das nicht begriffen, und das Fernsehspiel kam nicht zustande.
Wir haben eigentlich gelebt wie Studenten, sehr verantwortungslos, wenn es um finanzielle Dinge ging. Brinkmann ging es bis 1970 besser als danach. Acid, das einzige Buch, bei dem wirklich Geld herauskam, wurde bis 1972 so 120.000mal verkauft. 1971 hörte Brinkmann auf zu veröffentlichen. Alle Beziehungen brach er ab, zu Verlegern, zu Rundfunkanstalten und zu Feuilletonleuten. Acid war zu dieser Zeit möglicherweise seine einzige Geldquelle. Mindestens drei Zentner amerikanisches Material, Manuskripte, Notizen usw. hat er sehr schnell verkauft an die Buchhandlung König in Köln, 1971, für 800 Mark! Sonst ist mir schleierhaft, wovon er gelebt hat.
Brinkmann lehnte auch ab, irgend etwas anderes für Geld zu tun, versuchte Stipendien zu bekommen, was ihm nicht gelang. Das war auch bedingt durch seine abweisende Art, die immer sofort mit Forderungen an das Gegenüber kam, Forderungen nicht nur finanzieller Art, auch Forderungen an das Sprechen. Wenn sich jemand seiner Ansicht nach zu sehr in Klischees bewegte, merkte Brinkmann das sofort immer an, egal was er von der Person zu erwarten hatte. Das hat viele Leute natürlich sehr verärgert und abgestoßen.
Müssen wir Brinkmann als eine düstere, deprimierende, von Gewalt und Chaos bestimmte Person betrachten?
Nein! Ich habe ihn sicherlich auch als jemanden in Erinnerung, der sehr viel Lebensfreude hatte, der sehr viel Wert legte auf Unterhaltung, der Parties machen konnte, der sich treiben ließ und mit Freunden das Leben genoß. Sicher, das konnte sich bei ihm schnell ändern. Er nahm plötzlich eine Gegenposition ein, eine kritische Haltung, die alles wieder in Frage stellte.
Über Brinkmanns Tod ist viel gesprochen worden. Halten Sie einen Selbstmord für möglich?
Ach Quatsch, natürlich nicht, nie im Leben! Er hat immer Angst vor Autos gehabt. Mit Technik kam er nicht so klar, zu weit entfernt von ihm, zu kompliziert... Ich bin einmal mit Freunden nach London gefahren, da war immer ein Streit, daß zu schnell gefahren wurde. Es mußte langsam gefahren werden. Über Autofahrer regte er sich auf.
Ich wohnte so vier Jahre in London, die letzten zweieinhalb Jahre in Bayswater, in Queensville. Da hat mich Brinkmann vier-, fünfmal besucht. Ich hatte nur so einen Bedsitter, keine Übernachtungsmöglichkeit also. Im Haus nebenan war ein Hotel, eine kleine, billige Absteige. Dort wohnten merkwürdige Leute und halt Brinkmann. Nachher, nachdem wir nichts mehr miteinander zu tun hatten, ist er aber noch, glaube ich, zwei-, dreimal in London gewesen und in demselben Hotel abgestiegen, und gegenüber dem Hotel war der Pub des Shakespeare-Hauses. Da haben wir ab und zu ein Bier getrunken. Zwischen diesem Hotel und dem Pub ist er umgekommen. Aber selbstverständlich hat er keinen Selbstmord gemacht. Er hatte wirklich ganz unglaubliche Angst vor Krankheit und Tod. Ihm kam dann auch immer das Bild seiner Mutter, die an Krebs gestorben war. Wenn es um Tod ging, war ihm dieses Bild schnell gegenwärtig und immer mit einem großen Erschrecken.
Warum wurde Brinkmann in Vechta beerdigt?
Weil kein Geld da war. Da war die Oma, die gesagt hat, er kann in Vaters Grab mit rein. So kostet das nichts.
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