: Asbestregen, wenn die Bahn bremst?
■ S-Bahn-Kutscher enthüllt bisher streng gehütetes DDR-Geheimnis: S- und U-Bahn-Wagen haben Bremsbeläge aus Asbest
Ost-Berlin. „Sie wissen es seit Jahren und keiner macht was!“ Der umweltbewußte S-Bahn-Triebfahrzeugführer aus Ost -Berlin, der jüngst in der taz-Redaktion auftauchte, hatte das Corpus delicti gleich mitgebracht: einen bräunlichen, knapp 35 Zentimeter langen Bremsklotz der Marke „Cusid“ aus volkseigener Produktion. Bremsklötze dieser Marke enthalten einen hohen Anteil krebsverdächtigen Weißasbests, werden aber gleichwohl bei fast allen S- und U-Bahn-Wagen im Ostteil der Stadt verwendet, enthüllt der Besucher ein bis vor kurzem streng gehütetes Staatsgeheimnis.
Dringliche Forderung: Wie dies die BVG schon vor Jahren getan hat, müßten Reichsbahn und Berliner Verkehrs-Betriebe (BVB) aus Gesundheitsvorsorgegründen schleunigst alle Schnellbahnwagen auf asbestfreie Bremsbeläge umrüsten. Beide Ost-Verkehrsträger bereiten indes jetzt schon im stillen eine solche Aktion vor, obgleich man Gesundheitsgefahren abstreitet. Aufgrund der verschiedenen Geheimhaltungsvorschriften aus der Zeit vor der „Wende“ wisse man bislang nur, daß der Asbestanteil in den S-Bahn -Bremsklötzen bei 19 Prozent liegen solle, hieß es zunächst von den zuständigen Vertretern der Berliner Verkehrs -Betriebe.
Die Klötze finden sich auch in Wagen, die von der BVB in den Jahren 1974 bis 1982 zu U-Bahn-Wagen umgebaut wurden und seitdem auf der GroßprofillinieE von Alexanderplatz nach Hönow rollen. Darüber hinaus werden auch die Neubaufahrzeuge des Kleinprofiltyps GI, die auf der U-Bahn-Linie A nach Pankow laufen, mit Asbestbacken gebremst.
Wie der BVB-Bereichsleiter Technik, Heinrichs, versicherte, sei unterdes die Entscheidung gefallen, alle S- und U-Bahn -Wagen mit asbestfreien Belägen aus westdeutscher Qualitätsproduktion auszurüsten. Es liefen bereits Versuche mit Belägen eines Herstellers aus Leverkusen, der auch die BVG ausrüstet. Das Nachsehen hätte der bisherige, volkseigene Monopolanbieter, das Kautasit-Werk in Coswig. Der VEB ließ das für die Hauptuntersuchung der S-Bahn-Wagen verantwortliche Reichsbahn-Ausbesserungswerk Oberschönweide kürzlich wissen, das streng nach Plan noch bis Ende 1991 asbesthaltige Bremsbeläge geliefert würden.
Gesundheitlich gefährdet sind nach Auffassung Westberliner BVG-Experten eigentlich nur die Beschäftigten in den Bahnwerkstätten, die die Bremsbeläge auswechseln müssen. Vor der Übernahme der S-Bahn, die man zur Umrüstung nutzte, hätten hiesige Reichsbahner so zuweilen die Asbestbremsklötze mit der Schleifmaschine „passend“ gemacht. Daß beim Bremsen der Züge Asbestfasern auf S- und U-Bahn -Stationen herumwirbeln könnten, wurde demgegenüber auch in Ost-Berlin für unwahrscheinlich gehalten. Doch Messungen gab es dort nie.
Dem widersprach auf Anfrage der für Umweltchemie zuständige wissenschaftliche Mitarbeiter im Fraunhofer-Institut, Dr. Marfels. Bei den doch relativ kurzzeitigen Bremsvorgängen vor und an den Bahnhöfen „sollte eine deutliche Quelle von Asbestfasern festzustellen sein“, erklärte der Wissenschaftler. Entsprechende Behauptungen der Automobilindustrie, daß die gefährlichen Asbestfasern in den Bremsbelägen durch den Bremsvorgang in völlig ungefährliche Stäube zerlegt würden, seien durch Institutsuntersuchungen eindeutig widerlegt. Vielmehr seien an einer Straßenkreuzung „signifikant erhöhte Konzentrationen auch von langen Fasern“ gefunden worden, erläuterte Marfels.
Der BVB zufolge werden die abgefahrenen Bremsklötze und -backen mit Zustimmung des Magistrats wenigstens ordnungsgemäß auf der Sondermülldeponie Hennickendorf bei Straußberg entsorgt.
Allerdings gibt es auch hier Zweifel. „Teilweise sind die bei uns im Betriebswerk Grünau in Schlackewagen und Gitterpaletten verschwunden“, bekundete der in der taz -Redaktion erschienene Triebfahrzeugführer der Reichsbahn. Zum Beleg präsentiert er Fotos.
thok
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