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Brutal zerstörter Mythos

■ taz-exklusiv: Die Wahrheit über den „big point“ und die revolutionären Konsequenzen fürs Tennis

P R E S S - S C H L A G Unter all den schönen Dingen im Leben gehört dieses ganz zweifellos zu den Höhepunkten: Großkopfeten und vermeintlichen Autoritäten so richtig schön ans Bein zu pinkeln. Natürlich, wir sollten bei diesen Angriffen gewappnet sein, die Argumentation stringent im Kopf und die Fakten griffbereit. Und wenn sie sich dann genüßlich zurücklegen und dieses Gesicht machen, Marke: „Junger Mann, jetzt hören sie mir mal genau zu, besser noch, schreiben sie alles ganz genau mit“, dann lassen wir sie sich eine Weile in Selbstgefälligkeit suhlen bis wir den Hammer auspacken PENG.

Okay, wir riskieren dabei, den einen oder anderen Großkopf zu verprellen, was soll's. Und um gleich zu verraten, wen wir dabei heute im Auge haben, ein paar Namen: Günter Bosch, Heribert Faßbender, Ion Tiriac, Hans-Jürgen Pohmann, Boris Becker. Kapazitäten in Sachen Tennis allesamt, gar keine Frage, nur: Sie haben keine Ahnung.

Bevor nun aber zur ganz großen Enthülle geschritten wird, muß noch ein Mitstreiter vorgestellt werden, ohne dessen Hilfe zum big smash gar nicht hätte an dieser Stelle ausgeholt werden können. Richard Schönborn heißt unser Mann, 57 Jahre alt, Cheftrainer beim Deutschen Tennis Bund (DTB), der sich ins Gespräch mit dem Satz eingeführt hat: „Ich bin da, feste Mythen zu zerstören.“ Das weckt die Neugier.

Gesagt werden sollte auch noch, daß für Herrn Schönborn, der früher im Davis-Cup für die CSFR Hand ans Racket gelegt hat, ein Tennisspiel mehr ist als nur ein Tennisspiel. Da ist dann von biomechanischen Gesetzen die Rede, von Muskelkontraktionen und Schnellkraftimpulsen, kurz: von Hintergründen, die dem gemeinen Tennisbetrachter nie im Leben vermittelt werden. Der Mann ist Analytiker, einer von der Sorte des Fußballehrers Dettmar Cramer, den man schlicht und zurecht nur „Professor“ nannte.

Logisch, daß so einem das Grausen kommt wenn die Tiriac/Faßbender/Becker daherreden, dieser oder jener Punkt sein nun aber wieder ein ganz entscheidender gewesen, und Trainerkommentator Bosch pflegt bei diesen Gelegenheiten sich vor Aufregung fast selbst zu verschlucken, wenn er piepst: „Wichtig, wichtig, oh, das ist jetzt ganz wichtig.“ Anschließend heißt es dann, die Weltklasse zeige sich an der Konzentration auf den - ja, und jetzt kommt er unerbittlich: BIG POINT.

Alles Quatsch, alles Papperlapapp! Weil keiner weiß, was das ist, ein big point. Weil nämlich Richard Schönborn die Frage zur schriftlichen Beantwortung an 170 Tiptoptennistrainer gegegeben hat, und wieviel verschiedene Antworten waren unter den 100 eingereichten? Achtundvierzig (in Zahlen: 48). Und jetzt subito die höchst provokante These herausposaunt: big points gibt es nicht! Wollen erstmal ganz einfach argumentieren: Wenn es beim Stande von 15:40 für den Aufschläger zwei Satzbälle abzuwehren gilt, sind das dann big points? Ja, sagen unsere Autoritäten und müssen sich fragen lassen, was denn mit den Punkten sei, die zu diesem Spielstand geführt haben, ey?

Gut, vielleicht kommen wir so nicht weiter, aber wenn wir in der zentralen Datenbank der USA, in der alle Ergebnisse des Tenniszirkus gespeichert sind, einmal den Drucker anwerfen, so wird dieser nach der endlosen Auflistung unzähliger Ergebnisse in der Gesamtsumme folgende Überraschung parat halten: In 99 von 100 Fällen gewinnt der ein Tennismatch, der am Ende die meisten Punkte gesammelt hat. Banal, banal, jault nun die Big-Point-Fraktion auf, aber bitte, wir kontern mit einem ganz aktuellen Beispiel.

Bei den German Open zu Hamburg trafen aufeinander die Spieler Andre Agassi und Magnus Gustafsson, wovon es folgendes thesenuntermauerndes zu berichten gibt: Von den sogenannten big points gewann Agassi die weitaus meisten, nämlich sechs, wohingegen Gustafsson sich als der eifrigere Punktesammler erwies. Plus vier (in Zahlen: +4) ergab da die Statistik, und das Match ging an den Schweden.

Oder: Beim Turnier in Berlin trafen aufeinander die Spielerinnen Judith Wiesner und Natalia Zwerewa. 4:4 stand es da und 0:30 für Judith Wiesner im entscheidenen dritten Satz nach einem 1:4-Rückstand, weshalb alle ganz aufgeregt waren am Centre Court mitten im vornehmen Stadtteil Grunewald: die Trainer, das Publikum und die Journalisten. Bloß Richard Schönborn saß ruhig da, blickte auf seinen vollgeschriebenen Zettel und laß: plus zwölf Zwerewa.

„Hinterher wird der Coach zur Wiesner sagen: Du hast eine Chance gehabt. Nach der Statistik aber hätte sie aufhören zu können zu spielen.“ Und der Professor deutet auf die zwei Phasen des Matchs, in denen die Österreicherin lustlos Ball um Ball verschlagen hat. So also ist das im Tennis, und jetzt werden so manche zum Regal gehn und die teuern gekauften Fachbücher auf den Müll schmeißen.

Recht so! Nix mehr mit der lange gepredigten Taktik von wegen immer den ersten und dritten Punkt machen und dann sei dem Gegner die Moral gebrochen. Wir kehren zurück zu unseren Vorvätern, in jene Zeit, in der die Historiker den Menschen als Jäger und Sammler führen. Sammeln brav Punkt um Punkt ohne viel Aufhebens und verbreiten damit Angst und Schrecken auf den Tennnisplätzen. Bleiben unbeeindruckt von Satz- und Breakbällen, weil mental voll fixiert auf den zertrümmerten Mythos und die Kraft der Zahlen.

So sieht es aus, und auch auf die Gefahr überheblich zu wirken: Uns kann keiner. Und wenn das nächste mal einer anfängt vom big point zu reden hört er „Oh Mann, Sockenschuß, was?“ Aber wie!

Herr Thömmes

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