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Brief aus Peking, der Hauptstadt des Wartens

■ Der Widerstand der Pekinger hat sich in zynisches Gelächter verkehrt. Sie können die Durchhalteparolen der Partei nicht mehr ernstnehmen. Man hat sich auf schwere Wartezeiten eingestellt. Wann endlich erfolgt ein biologisches Abtreten?

Mit Zeige- und Mittelfinger deuten die Chinesen die Zahl Zwei an. Und mehr. Eine Frau kommt zum Gemüsehändler und will zwei Kohlköpfe. Die deutenden Finger sind verkrümmt. „Haben Sie Gicht?“ fragt der Verkäufer. „Nein, aber wer will schon in den Knast?“ - Gestreckt nach oben stellen die Finger den Viktoria-Gruß der Bewegung 1989 dar, nach unten dasselbe, heimlich. Und horizontal: So hoch stand auf dem Tiananmen das Blut.

Es gibt nur wenige solcher Witze, außer über Ministerpräsident Li Peng natürlich, den Lacherfolg der Nachsaison. Radio Peking vor einer Deutschklasse: „Ministerpräsident Li Peng - Gelächter - ist mit dem Präsidenten von Guayana - Gelächter - zusammengetroffen. Sie vereinbarten, die freundschaftlichen Beziehungen ihrer Völker - Gelächter - auf der Basis der gegenseitigen Respektierung und Anerkennung - Gelächter weiterzuentwickeln - Gelächter.“ Es gibt eben nicht viel zu lachen.

Aber es gibt ein immer wieder überraschendes chinesisches Lachen aus der Verlegenheit, seine Bestürzung nicht zeigen zu wollen. Und da will das Lachen nicht enden.

Gefälschte Totenscheine und Selbstmord als Protest

Jemand hatte am 4. Juni eine Armeepistole auf der Straße aufgelesen und mitgenommen und wußte am 5. nicht, wohin damit. Er hängte sie an einer Schnur in den Lüftungsschacht seiner Toilette. Sie baumelte vor der Schachtöffnung eine Wohnung weiter unten und zeigte der von dort gerufenen Polizei den Weg. Sieben Jahre Gefängnis.

Der Sohn eines namhaften Kaders war in den Morgenstunden des 4. Juni bei „muxudi“, der Stätte des schlimmsten Gemetzels auf der westlichen Straße des Langwährenden Friedens, erschossen worden. Die Eltern erbaten sich die Leiche und bekamen sie nach Gegenzeichnung des Totenscheins: Tod infolge von Lungenentzündung.

Ein Student der Peking-Universität warf sich am 1. Oktober bei Badaling an der Großen Mauer vor einen Zug, ein Freitodversuch von vielen. Eltern und Kommilitonen erfuhren nur, er habe einen Unfall gehabt; seinen Abschiedsbrief bekamen nur wenige Professoren zu lesen: „Das ist mein Beitrag zum 40. Gründungstag der Volksrepublik.“ Wenn er durchkommt, muß ihn die Hochschule sofort entlassen.

Gegenwärtig werden die Parteimitgliedschaften überprüft, im allgemeinen kein Problem. Denn kaum einer, der sich selbstkritisch belasten müßte, belastet sich. Dem Denunziantentum mangelt es an Masse. Einige Hunde bellen zwar und verpfeifen im dunkeln, aber vorherrschend ist doch die Angst vor der Einsamkeit. „Die da oben betrügen uns, und wir betrügen sie“, meint ein Professor, der wie mehrere seiner Kollegen während der Tage der Belagerung Pekings mit dem Fahrrad zu den Soldaten gefahren und auf einen Lastwagen gestiegen war, sich dreimal konfuzianisch verbeugt und eine Rede über die Verbundenheit von Armee und Volk gehalten hatte, sich nochmals dreimal vor den Soldaten verbeugt hatte und wieder an seinen Schreibtisch gefahren war und mit Sicherheit auf einem der Videofilme in Polizistenhänden zu sehen ist.

Ein Soll an Wegzusäubernden

An die Peking-Universität lieferte die Polizei im Januar 20 Videostunden mit politischen Aktivitäten in den 56 Tagen. Aus dem kleinen Kreis derer, die nun die Bewegung Bild für Bild beschauen, sind noch keine Erkenntnisse nach außen gedrungen. Soeben wurde mitgeteilt, daß eine Studentenbefragung ergeben habe, daß der Anteil der Befürworter des gegenwärtigen Kurses der KP von 15 Prozent auf 20 Prozent gegenüber November letzten Jahres gestiegen sei. Wieder ein Sieg über die Konterrevolution. Nicht mitgeteilt wurde, wer wen wie befragte.

Überhaupt ist die groß angekündigte Parteimitglieder -Überprüfung an sensiblen Einheiten zunächst mal auf August verschoben worden. In einer recht linientreu eingeschätzten „danwei“ (Arbeitseinheit) ist sie schon im März gelaufen und war Quell allgemeiner Heiterkeit. Eine Gruppenparteisekretärin überträgt Kreuzchen und kurze Notizen aus einem Formular in ein anderes. Einem hinzukommenden Ausländer zeigt sie schließlich lachend, was sie da macht: Der Parteisekretär der Einheit hat dem Fragebogen zur politischen Selbstdarstellung jeweils einen ausgefüllten beigelegt. Man möge sich an das Muster halten, und die Sache sei erledigt. Sie selbst vermied mit Selbstverständlichkeit, die Fragen auf dem Formular zu lesen.

Mit dem Herannahen der Asien-Spiele im nächsten September scheinen auch die Machthaber immer weniger wissen und vor allem eine gute internationale Presse haben zu wollen. Natürlich muß der Säuberungsprozeß plangemäß vorangetrieben werden, es gibt schließlich ein Soll an Wegzusäubernden. Aber die Tendenz geht im Augenblick nicht in Richtung auf Planübererfüllung. So werden wohl auch die 125 erfaßten, aber dann doch nicht verhafteten Studenten der Peking -Universität, gegen die zur Zeit noch ermittelt wird, nach Möglichkeit laufengelassen. Weniger als eine Handvoll exemplarischer Relegationen sind zu erwarten, einem kleinen Teil soll das freiwillige Ausscheiden aus der Universität nahegelegt werden, ein größerer Teil bekommt eine Verwarnung, und etwa die Hälfte wird mit einem Vermerk in der Personalakte davonkommen - differenzierte Behandlung nach Plan.

Mehr Schmiergeld,

sonst wie gehabt

Vermerke in diesen Akten führen nicht immer zu materieller Gewalt, denn überall finden sich Leute, die die Vermerke übersehen oder übersehen wollen. Ein untergetauchter Aktivist des letzten Frühsommers wurde gerade als Dolmetscher an eine ausländische Firma vermittelt. Vielleicht hat er sich bereiterklärt, andere Akten zu füllen. Jemand mit Managererfahrung und einer Familie, die seit der frühen Qing-Dynastie Namen und Vermögen hat, wurde nach hundert Tagen politischer U-Haft in einem Pekinger Vorortgefängnis von Vollzugsorganen in die Stadt und in die Freiheit gefahren. Bei einer Zigarette verständigte man sich unterwegs. Die Polizei sei an vielen Firmen beteiligt, wo fähige Manager gebraucht werden. Aber man sei noch mehr interessiert an gemischt staatlich-privaten Unternehmen, sprich privat finanzierten Kleinunternehmen unter staatlicher Kontrolle. Man könne da was vermitteln und für die Lizenz sorgen, zum Beispiel für die Wiedereröffnung eines der gut sechzig Pekinger Lokale, die wegen Prostitution im Rahmen der „Kampagne gegen die sechs Laster“ polizeilich geschlossen werden mußten. Man würde eines in guter Lage wählen. Schließlich müsse man in dieser schwierigen Zeit zusammenhalten. - Der Rede Sinn: Ein bißchen mehr Schmiergeld als üblich, ansonsten alles wie gehabt.

Man wartet. In Fengtai, im Südwesten der Stadt, gibt es Zellen von gut zwanzig Quadratmetern. Der Platz reicht nicht, daß alle zwanzig Leute gleichzeitig liegen und schlafen können. Es herrscht Redeverbot, bei Zuwiderhandlung kommen Beamte und schlagen und treten. Kein Hofgang, festgelegte Minuten, um aufs Klo zu gehen, keine medizinische Versorgung selbst bei hohem Fieber, eisige Kälte im Winter, täglich vier Maisbrötchen zu verwelkten Chinakohlblättern, Hunger. Und die Angst, daß das nächste Mal auf einen selbst gezeigt wird, wenn wieder ein Urteil verkündet wird, mit einem Fingerschnippen: Du sechs Jahre, du siebeneinhalb, du... Selten unter sechs Jahren pro Delikt, sechs Jahre zum Beispiel für einen am 7.6.89 auf eine leere und schon zerstörte Straßenpolizeistation geworfenen Stein, nur bei Tätergemeinschaft kam jeder mal mit drei oder dreieinhalb Jahren davon.

„Armes China!“

Schwere Wartezeiten dort, Warteräume überall, aber kaum eine Erwartung baldiger Wende. Und wenig Widerstand. Wie auch, wenn die Kriegsrechtsarmee nun in Uniformen der bewaffneten und kasernierten Polizei allgegenwärtig ist. Die Versuche, Zeichen gegen die Zeit zu setzen, sind hilflos und halsbrecherisch. „Warum ist China so arm?“ fragte eine Handvoll Demonstranten Ende Dezember vor dem Rundfunkhaus und wurde verhaftet. „Armes China!“ riefen ein paar Dutzend Augenzeugen. Zehn Minuten dauerte eine Aktion vor drei Wochen auf dem Campus der Peking-Universität. Im demokratischen Dreieck zwischen Mensa, Studentenheim und Laden hatten neun Forschungsstudenten fünf große Bogen Papier aufgehängt, vier blank für Unterschrifen, einer mit dem zu unterschreibenden Appell, dessen erster Absatz gerade noch verlesen werden konnte, bevor mehr oder weniger hochschulinterne Ordnungskräfte Leser und Papier ergriffen. Appelliert wurde an den Westen, seinen Wirtschaftsboykott zu beenden. Der Kommentar dazu besagte, der Boykott verfehle im Augenblick sein Ziel und schade der chinesischen Bevölkerung. Die Parteileitung erkannte, was dahinter steckte: 1) Die Isolierung Chinas wird betont. 2) Man wendet sich ans Ausland in innerchinesischen Belangen. 3) Um welche Ziele geht es überhaupt, um die revolutionären Ziele Chinas oder um die kapitalistischen des Westens?

Das alles macht keine Hoffnung auf eine Wende von unten, wie je schauen die Intellektuellen nach oben: Wann endlich erfolgt ein biologisches Abtreten? Oder könnten sich die Widersprüche zwischen den Dengs und den Lis und den Jiangs und den Yangs zuspitzen? Ist vielleicht Propagandachef Li Ruihan etwas besser als die anderen? Vor zehn Jahren glaubten noch die meisten, daß es nur mit der KP vorwärtsgehen und daß der Glaubensverlust der Demokraten von 1979 überwunden werden kann. Heute klingen selbst die Durchhalteparolen der Um-jeden-Preis-Bewahrer der Normalität unglaubwürdig. Man weiß. Und die neue Rationalität macht zynisch.

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