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Greifswald hat 60 Geschwister

Zum GRS-Gutachten und der vorläufigen Abschaltung des Atomkraftwerks  ■ K O M M E N T A R E

Die Entscheidung, die vier Alt-Reaktoren von Greifswald abzuschalten, ist angesichts der Invalidität dieser Anlage zwingend. Daß DDR-Umweltminister Steinberg sich dazu durchgerungen hat, kann nur begrüßt werden. Aber schon die lange Schonfrist bleibt umstritten: Trotz der jetzt höchstgutachterlich bestätigten, gefährlichen und nicht tolerierbaren Sicherheitsdefizite wird bei einer der vier Zeitbomben die Zündschnur noch bis zum Jahresende weiterglimmen.

Und ob die dann durchgesetzte Abschaltung tatsächlich das endgültige Aus für die sowjetischen Reaktoren bedeutet, muß bezweifelt werden. Denn die Frage der Nachrüstung der Anlage und ihre mögliche Wiederinbetriebnahme ist noch nicht beantwortet. Sicher ist nur: Die Direktion des Atomkombinats und die 8.000 Atomwerker vor Ort setzen auf diese Nachrüstung.

Auch die Gutachter der Kölner Gesellschaft für Reaktorsicherheit haben diese Möglichkeit explizit offengelassen und zur ökonomischen Frage erklärt. Damit ist zu erwarten, daß vor dem Hintergrund einer Wiederinbetriebnahme schon bald um die Sicherheitsauflagen und deren Kosten gefeilscht werden darf. Mit dem, medizinisch-vermenschelt als „Ausheilung“ bezeichneten, notdürftigen Ausglühen der versprödeten Reaktordruckbehälter hat die Rekonstruktion von Greifswald im Grunde schon begonnen. Würde man von einer endgültigen Stillegung ausgehen, könnte man sich derartige Aktionen sparen und sich zügig an die Verschrottung machen.

Die traditionell atomindustrienahe Gesellschaft für Reaktorsicherheit stand bei ihrer Begutachtung vor der Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie konnte Greifswald keinen Persilschein aushändigen, ohne ihre eigenen, umstrittenen Sicherheitsstandards ins Bodenlose fallen zu lassen. Sie konnte aber auch nicht verhindern, daß mit diesem Gutachten die ohnehin schwer geschlagene internationale Atomindustrie noch stärker in Verruf gerät. Die jetzt regierungsamtliche Kritik an den Greifswalder Alt-Reaktoren, die so massiv ist, daß sie zur Abschaltung führt, gilt nämlich auch - soweit sie die Technik und nicht die Bedienungsmannschaft betrifft

-für 60 weitere baugleiche Reaktoren in ganz Ost-Europa. Auch dies gehört zur Brisanz dieses Gutachtens. Es erklärt den halben Atomparks Europas zum Sicherheitsrisiko. Allein in der Sowjetunion stehen weitere 27 dieser Atommeiler, auf die die grundsätzliche Kritik an der Systemtechnik in vollem Umfang zutrifft. Nimmt man das GRS-Gutachten ernst, gibt es für diese Atom-Geschwister von Greifswald nur eine Alternative: abschalten. Diese weitreichende und grundsätzliche Relevanz des Greifswald-Gutachtens ist bislang völlig unterbelichtet.

Manfred Kriener

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